Das Magazin

22.01.2000

(Herz)(Blut)

Zuerst waren sie ein Traumpaar mit einer süssen kleinen Tochter. Dann wurden sie erbitterte Feinde. Im Laufe der Scheidungsschlacht griff die Frau zur vernichtendsten der neuen Waffen. Der Mann habe das gemeinsame Kind missbraucht.

Von Eugen Sorg undThomas Ott (Illustrationen)

Alles lief so, wie es sollte. Kurt Ullrich, erfolgreicher Aussendienstmitarbeiter, Porschefahrer, sportlicher Typ, hatte, mittlerweile 36 Jahre alt geworden, die Hörner abgestossen und war innerlich bereit, eine Familie zu gründen. Die Frau, die er über eine Arbeitskollegin kennen gelernt hatte und die die Mutter seiner Kinder werden sollte, war wie ein Sechser im Lotto. Dies war jedenfalls damals seine feste Überzeugung. Stefanie Röthlisberger hatte ein gewinnendes Wesen, war zehn Jahre jünger, blond, ein wenig grösser als der eher klein gewachsene Ullrich. Wenn er sie seinen Kollegen vorstellte, konnte er in deren Augen lesen, was sie von ihr hielten. Sie zwinkerten ihm anerkennend zu.

Nach einem halben Jahr Bekanntschaft zog sie zu ihm in seine Eigentumswohnung in einer Kleinstadt im Aargau. Und ein Jahr später, im Mai 1992, wurde geheiratet. Im Fotoalbum ist der Anlass verewigt. Eine Traumhochzeit mit vielen Geladenen in einem Ritterhaus. Die glückliche Braut im Kleid mit langer Schleppe, fast wie eine richtige Prinzessin, der stolze Bräutigam mit silbernem Spencer und roter Bauchbinde, meistens etwas ernst dreinschauend. Vielleicht musste er immer wieder durchrechnen, wie stark das festliche Treiben, das sich unter seinen Blicken abspielte, sein Bankkonto belas-tete. Bei den Vorbereitungen waren nämlich kleinere Unstimmigkeiten aufgetaucht. Die Familie seiner Frau, die Gegenpartei, wie er sie heute nennt, hatte viele Gäste von ihrer Seite eingeladen, zu viele, wie es ihm schien, und dies alles auf seine Kosten. Aber er hatte geschwiegen, schliesslich ging es um den schönsten Tag im Leben, und den wollte er sich nicht mit derartigen Kleinigkeiten verderben.

20 Monate später, im März 1994, kam das gemeinsame Kind zur Welt, ein Mädchen namens Julia. Die Eltern hatten es sehnsüchtig erwartet. Kurt Ullrich hatte einen Baby-Kurs in der Migros besucht, zwei Bücher über Kinderpflege gelesen, und mit seinen Kollegen redete er seit neuestem nicht mehr nur über Autos. Als er im Spital das kleine Geschöpf im Arm hielt, überkamen ihn Gefühle, die er bisher nicht gekannt hatte. Rührung, Stolz, eine närrische Freude. Weniger Freude allerdings bereitete ihm zu diesem Zeitpunkt der Zustand seiner Ehe.

Seit längerem beherrschten Spannungen den Beziehungsalltag. Später wird Ullrich sagen, seine Frau hätte sich gleich nach der Heirat radikal zum Negativen hin verändert, quasi die Mas-ke fallen gelassen, während seine Frau den Anfang des Zerwürfnisses noch viel früher angesetzt haben wollte. Die Geburt des Töchterchens brachte keinen Frieden. Im Gegenteil, die Streitereien häuften sich, und jeder Versuch, den Streit zu klären, brachte neue und noch tiefere Kränkungen und führte zu einem noch heftigeren Streit. Einig war man sich bald nur noch in der Überzeugung, dass der andere schuld war am Scheitern des Traums einer lebenslangen Liebe. Wann genau die Enttäuschung in Hass umschlug, und warum, ist nicht mehr zu klären. Fest steht nur, dass Mitte Januar 1995 die Ehefrau mit der zehnmonatigen Julia die gemeinsame Wohnung verliess und zu ihren Eltern heimkehrte. Das hatte sie schon mehrmals getan, aber diesmal war es ihr ernst mit der Trennung. Sie liess sich am Telefon verleugnen, und Kurt Ullrich merkte am eisigen Ton seiner Schwiegereltern, dass er in dieser Familie nicht mehr erwünscht war. Der Kampf Mann gegen Frau hatte sich zum Sippenkrieg geweitet.

Kurz darauf bekam Ullrich einen eingeschriebenen Brief. Die Frau hatte sich einen Anwalt genommen, und dieser bot Ullrich auf, um die Trennungsvereinbarung zu unterschreiben. Dann stellte Ullrich fest, dass die Frau in seiner Abwesenheit Sachen abtransportierte, die sie als die ihrigen betrachtete. Als Antwort liess er das Schloss auswechseln. Ein zweiter Brief des Anwalts der Frau forderte ihn ultimativ auf, die Dinge auszuhändigen, die nicht ihm gehörten. Ullrich handelte sofort. Er engagierte ebenfalls einen Anwalt und reichte Mitte Februar 1995 die Scheidung ein. Wieder weitete sich der Krieg aus und nahm eine neue Qualität an.

In der Klageschrift warf er der Frau «böswilliges Verlassen» vor, und er listete auf, welche ihrer Verhaltensweisen seiner Meinung nach ein harmonisches Zusammenleben kaputtgemacht hätten. Er erwähnte ihr abnorm launisches Wesen, wie sie auf einmal alle seine Kollegen als «Arschlöcher» tituliert und sich zunehmend abfälliger über seine Familie geäussert habe.

Und dann setzte er zum Generalangriff an. Er sprach seiner Frau die Eignung als Ehefrau und Mutter kategorisch ab. Er habe schwer wiegende Bedenken, diktierte er seinem Rechtsvertreter, was ihren Gemütszustand betreffe. Sie sei jähzornig, unselbstständig, psychisch sehr labil und bei der Pflege des Kindes total überfordert. Schon während der Schwangerschaft sei sie depressiv geworden. Nach der Geburt habe sie nicht mehr geputzt, gepostet und gekocht. Trotzdem habe sie die Hilfsangebote der Schwiegermutter abgelehnt. Überhaupt habe sie ein fast wahnhaftes Besitzdenken dem Kinde gegenüber entwickelt und niemanden von der Seite des Mannes mehr an das Mädchen herangelassen. Dafür habe sie immer öfters mit der eigenen Mutter telefoniert, am Schluss für über 600 Franken monatlich. Deshalb, schloss Ullrich, sei ihm als Vater das Sorgerecht für die Tochter zuzusprechen.

Der Anwalt hatte Ullrich von dieser Forderung abgeraten. Väter hätten erfahrungsgemäss kaum eine Chance, die Kinder zu bekommen, und bestimmt keine Kleinkinder. Sogar wenn die Mutter Prostituierte oder Alkoholikerin oder beides zusammen sei, würden sie bei der Mutter bleiben, ausgenommen in Fällen von krasser Vernachlässigung. Ullrich aber beharrte stur auf seinem Standpunkt. Er war verletzt, naiv und überheblich. Er meinte, über unwiderlegbare Argumente zu verfügen.

Jede zweite Ehe hier zu Lande wird geschieden. Von den beinahe 20 000 Paaren, die sich jährlich vor dem Richter das definitive Nein-Wort geben, können trotzdem ein Viertel weiterhin nicht voneinander lassen. Sie setzen den Beziehungskrieg fort mit juristischen Mitteln. Wie in jedem Krieg geht es um Besitzstand und um Ehre, wobei sich die beiden Motive häufig unentwirrbar durchdringen. Nicht nur der eigene Vorteil wird gesucht, sondern auch der Triumph des Sieges. Der andere soll erniedrigt werden und soll leiden, und jedes Mittel ist recht, wenn es nur trifft. Die Gegner kennen sich gut, sie wissen, wo es dem anderen am meisten wehtut. Und weil das Messer im eigenen Fleisch schmerzt, dasjenige im Fleisch des Gegners aber tröstet, sind Beziehungskriege auf Endlosigkeit hin angelegt. Kampfscheidungen garantieren nicht nur das Einkommen der Scheidungsanwälte, sie bringen auch die dunklen Seiten der menschlichen Natur zum Vorschein.

Die Gegenseite hatte unterdessen ebenfalls die Waffen geschmiedet. Die Frau wurde gecoacht von einem Anwalt, der bekannt ist für eine Gefechtsstrategie unterhalb der Gürtellinie. Das erste Rencontre fand vor dem Friedensrichter statt. Noch während der Ausführungen der Frau begann Ullrich am ganzen Körper zu zittern. Mehrfach fiel er ihr ins Wort, laut und erregt, Lügengeschichten seien das, was sie erzähle, eine Schweinerei, und der Friedensrichter sagte, er solle sich beruhigen, anfänglich väterlich und dann energisch. Nach der Verhandlung fuhr Ullrich nach Hause, geschockt, nudelfertig.

Die Klageantwort und Widerklage seiner Frau, die nach einiger Zeit in seinem Briefkasten lagen, wiederholten die Vorwürfe, die ihn schon vor dem Friedensrichter bleich hatten werden lassen. Diesmal waren sie noch ausführlicher und gleichzeitig systematischer. Präpariert und scharf gemacht vom juristischen Fachmann. Dass der Kläger, also Ullrich, seine Frau geschlagen habe, war noch die harmloseste der Vorhaltungen, gleichsam das Vorspiel. Die Hauptlinie des Gegenangriffs zielte darauf, ihn als gefühlloses, chauvinistisches Sexualmonster zu zeichnen, um ihn wiederum als Vater abzuqualifizieren und in der Schlacht um die Tochter ausschalten zu können.

Die Frau, heisst es in der Klageantwort, habe gute Gründe gehabt, an der Treue des Ehegatten zu zweifeln. Ständig habe der Kläger Präservative mit sich geführt, im Anzug, in der Brieftasche, im Auto, obwohl man während der Ehe ohne Verhütung miteinander verkehrt habe. Grund sei die absonderliche Neigung des Klägers, in «allen Lebenslagen und überall» seinen Sextrieb auszuleben. Es sei zwar schwierig, einen ausserehelichen Sexkontakt nachzuweisen, aber einmal sei er erst morgens um 3.17 Uhr nach Hause gekommen, das Hemd mit Lippenstift verschmiert. Die Ehefrau habe als Beweis die Flecken auf dem Tuch fotografiert.

Ganz elend sei die Hochzeitsreise gewesen. Der Kläger habe das Zimmermädchen angemacht und seine junge Ehefrau in Bangkok durch die «Dienstleistungsgeschäfte der Pornoindustrie» schleppen wollen, zwecks sexueller Stimulation. Und er habe sogar den Willen geäussert, eine Thaifrau als «Haushalthilfe» in die Schweiz zu importieren, um mit ihr «Gruppensex zu betreiben».

Zudem seien «massenhaft» Pornoprodukte in seiner Wohnung herum gelegen. Anfänglich «Druckerzeugnisse», später «Pornofilme», und schliesslich habe er die eigene Ehefrau zum «Pornomodell» degradiert. Gefügig gemacht durch die Androhung von Schlägen, habe sie nackt, gefesselt und mit verbundenen Augen vor der Videokamera posieren müssen. Der Kläger habe solche Filme gebraucht, um in Stimmung zu kommen. Im Laufe der Zeit sei die Frau aber reifer geworden und habe sich gegen seine abartigen Wünsche gewehrt. Da sie hiermit als Sexobjekt ausgedient hätte, habe er das Interesse an ihr verloren und sie fallen gelassen.

Dramaturgisch betrachtet, dienten diese Anmerkungen zu Ullrichs angeblicher Sexualpathologie der Vorbereitung auf die Schlussoffensive. «Auch das Kind», hiess es in der Schrift weiter, «vermochte in ihm keine echten Gefühle zu wecken. Für ihn hatte es einen Grind, Pfoten, es frisst und säuft.» Und dann fiel der Satz, der die kommenden Schlachtordnungen vorwegnehmen sollte. «Diese Eigenart des Klägers», wurde in Anspielung auf die insinuierte triebhafte Masslosigkeit Ullrichs formuliert, «drückte sich auch so aus, dass er mit dem Kleinkind Julia häufig badete und dabei meistens ein erigiertes Glied bekam.» Die Ehefrau wisse nicht, schloss Ullrichs Gegenanwalt mit feinem Understatement, «wie solches Verhalten sexualpsychologisch einzuordnen ist, befürchtet aber Schlimmes».

Im gleichen Jahr, als Ullrich geheiratet hatte, lancierte das Eidgenössische Büro für Gleichstellung von Frau und Mann eine Wanderausstellung zum Thema sexuelle Ausbeutung von Mädchen. Die Schau und die dazu erstellte Dokumentation präsentierten grausliche Verhältnisse. Jedes dritte bis vierte Mädchen (und jeder siebte bis achte Knabe), klärte man den Besucher auf, werde zwischen dem ersten und dem 16. Lebensjahr Opfer von sexueller Gewalt. Tatort sei meist das Kinderzimmer oder der Bastelkeller und Täter folgerichtig nicht etwa der Fremde mit dem Schleckstängel, sondern in bis zu 60 Prozent aller Fälle der Vater, Stiefvater oder sonst ein männlicher Verwandter.

Sinnigerweise war die Ausstellung als Wohnung konzipiert und trug den Titel «(K)ein sicherer Ort». Damit war natürlich die Familie gemeint. Denn «die meisten Mädchen», so die Projektleiterinnen, «erfahren sexuelle Gewalt gerade dort, wo sich Kinder eigentlich geborgen und sicher fühlen sollten». Bilder von kleinen Mädchen in hellen Sommerröcklein an der grossen Hand von dunkel gewandeten Männern, von düsteren Kellertreppen, verzweifelten Frauen und Opfergrafiken sollten den Eindruck von der Unheimlichkeit des trauten Heims verstärken.

Angesichts einer als geradezu epidemisch diagnostizierten Verbreitung innerfamiliärer Übergriffe stellte sich die Frage nach der Ursache. «Der Hintergrund», belehrte die Ausstellung, «auf dem die sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Knaben möglich wird, ist die patriarchale Gesellschaft.» Bei sexuellen Übergriffen gehe es eben nicht um Sexualität, sondern darum, «Macht und Überlegenheit» zu demonstrieren.

Somit wurde auch klar, wer ins Visier der Fachleute für Missbrauchsprävention geraten war. Nicht mehr die üblichen Verdächtigen wie Pädophile, Sexualpsychopathen und sonstige Irrläufer der Triebentwicklung, sondern der Mann an sich, der Mann als Gattungswesen und als Vertreter eines privilegierten Geschlechts. Jeder Familienvater, jeder grosse Bruder, jeder Onkel geriet in dieser Sicht in den Ruch, grundsätzlich zur Kinderschändung fähig zu sein. Und so gesehen wirkte auch das immense Ausmass an postulierten Übergriffen plausibel. ‹

Aussendienstler Ullrich hatte immer schon als Verkäufer gearbeitet. Oft hatte er einen vor sich gehabt, der lächelnd abwinkte, als er ihm seine elektronischen Geräte präsentieren wollte. Ullrich fing an, mit ihm zu reden, und am Schluss unterzeichnete der andere trotzdem den Vertrag für die neuen Kassettenrecorder. In diesem Fall, in seinem Scheidungsfall, dies dämmerte ihm langsam, war sein Gegenüber von ganz anderem Kaliber. Mächtig, feindselig, ungreifbar. Zum ersten Mal fühlte er sich ohnmächtig. Obwohl er an sich keine Mühe hatte, die seiner Meinung nach infamen Gemeinheiten seiner Frau schlüssig zu widerlegen.

Ullrich sah sich gezwungen, ausführlicher auf deren Charakter einzugehen. Schon auf der Hochzeitsreise, schrieb er in der Replik, habe sich bei der Frau eine geradezu groteske Eifersucht gezeigt. Aus heiterem Himmel habe sie ihn auf vulgärste Weise beschimpfen können, weil er angeblich ein Zimmermädchen zu aufmerksam beobachtet habe. Solche Auftritte hätten sich im Laufe der Zeit gehäuft, vor allem während der Schwangerschaft sei es ganz extrem geworden. In Gartenrestaurants, in aller Öffentlichkeit habe sie ihm plötzlich laute und wüste Szenen gemacht. Obwohl sie gar nicht sehen konnte, wohin er schaute. Er habe sich nämlich extra eine verspiegelte Sonnenbrille gekauft, um ihren Vorwurfsattacken zu entgehen. Eine krank-hafte Unausgeglichenheit habe sich bei ihr übrigens schon ganz früh gezeigt. Als Beweis reichte er eine Art Tagebuch ein, welches seine Frau als 16-Jährige verfasst hatte. Die Jugendliche redet darin melodramatisch von ihrer «innerlichen Zerrissenheit», wie sie «so gerne ein Christ» wäre, aber «vom Teufel regiert» werde.

Und dann diese Sache mit den «Pornodruckerzeugnissen». Wahr sei, dass er noch während seiner Junggesellenzeit den «Penthouse» abonniert habe, ein Hochglanz-Herrenmagazin, derart harmlos, dass man es sogar bei Elternbesuchen getrost in der Wohnstube he-rumliegen lassen konnte. Oder die Geschichte mit den erzwungenen «Por-

noaufnahmen». Jawohl, er habe seine Frau nackt gefilmt, sogar den gemeinsamen Verkehr habe er zwei oder dreimal auf Video aufgenommen. Sie seien ein frisch verliebtes Paar gewesen und hätten Freude aneinander gehabt, und an regnerischen Sonntagen habe man den Film gemeinsam angeschaut. Das Gericht möge anhand eines der Videos selber überprüfen, ob die Frau einen terrorisierten Eindruck mache oder nicht vielmehr mit Spass zur Sache gehe. Die Anregung zur Filmerei sei nämlich von ihr gekommen.

Und zum Vorwurf der Erektion in der Badewanne könne er nur sagen, dass dies eine haltlose und geschmack-lose Anschuldigung sei.

Seinen besten Kollegen erzählte er, dass er das mit dem Steifen zum ersten Mal vor dem Friedensrichter gehört habe. Er habe, vertraute er diesen an, daraufhin an sich festgestellt, das er zu einem Mord fähig wäre. Rachefantasien hätten ihn während Monaten bis in den Schlaf hinein verfolgt. Seltsamerweise erfüllte ihn aber mehr Wut auf den Gegenanwalt als auf die Frau. Am meis-ten getroffen habe ihn aber die Aussage, dass für ihn seine Tochter nur ein Ding «mit Pfoten und Grind» sei. Wegen dieses Satzes habe er halbe Nächte lang geheult wie ein Kind.

Schon wenige Wochen nach der Trennung orientierte Ullrich das Gericht, dass ihm seine Frau Schwierigkeiten bereite, die Tochter zu sehen. Zwei Monate nach dem Auszug, im März 1995, erging ein vorläufiges Gerichtsurteil: Besuchsrecht für den Vater am jeweils ersten Sonntag des Monats. Die Frau, die immer dabei war, wenn Ullrich die Tochter im Kinderwagen während der amtlich bewilligten drei Stunden durch das Dorf schob, schaute da-rauf, dass er die kleine Julia keine Minute länger sah. Und ein paar Mal noch verhinderte sie überhaupt ein Zusammentreffen. Weil Julia krank sei oder ohne Begründung. Als Ullrich an einem der Sonntage in den Kinderzoo fuhr und eine halbe Stunde zu spät heimkehrte, erwartete ihn vor der Tür der Schwiegervater. Dieser hätte ihn, so die Version Ullrichs, mit «Sauhund» tituliert und am Hals gewürgt. Darauf seien ihm die Sicherungen durchgebrannt. Auf Grund der anschliessenden Schlägerei kassierte Ullrich eine Busse wegen Körperverletzung. Im August ordnete das Gericht auf Begehren Ullrichs eine Beistandsschaft an, um die «Ausgestaltung des Besuchsrechts zu überwachen».

Im folgenden Jahr fanden die Besuche im Beisein von zwei Sozialarbeitern statt. Der neu ernannte Beistand hatte dies auf Drängen der Frau vorgeschlagen, und Ullrich hatte eingewilligt, obwohl dies der richterliche Beschluss nicht vorschrieb und er es als unglaublich demütigend empfand. Aber das ganze Hickhack hatte ihn ziemlich fertig gemacht, und er befürchtete, er würde Julia sonst noch seltener sehen. Die Treffen fanden im Raum eines Kindergartens statt, wo noch andere Väter mit ähnlichen Beziehungssituationen mit ihren Kindern spielten. Beim zweiten Besuch hörte er, wie seine Frau im Nebenraum mit den Sozialarbeitern über ihn sprach. Er schnappte Wörter auf wie «Erektion in der Badewanne», «Pornoaufnahmen», und er mischte sich sofort ein. Sie solle aufhören, sagte er, und wurde dabei «etwas laut», wo-rauf fünfzehn Minuten später Vater und Onkel der Frau auftauchten, ihm das Kind aus den Armen rissen und mit diesem davonfuhren. Julia, mittlerweile knapp zweijährig, weinte, und die Sozialarbeiter machten grosse Augen.

Die nächsten Besuche kamen nicht zu Stande. Entweder war, nach Aussage der Frau, Julia krank, oder es öffnete niemand die Tür. Ullrich zeigte darauf seine Frau wegen «Ungehorsam gegen eine amtliche Verfügung» an, und diese konterte mit dem rechtlichen Begehren, dem Vater sei das Besuchsrecht bis auf weiteres zu entziehen. Sie führte erneut die Badewannenszenen ins Feld und äusserte die Befürchtung, dem Kindsvater seien durchaus noch weitere sexuelle Handlungen mit dem Kind zuzutrauen. Gleichzeitig reichte sie ein Zeugnis einer Kinderärztin ein, welche «im Interesse des Kindes» von weiteren Zusammentreffen mit dem Vater abriet. Das Kind litte unter «Trennungsängsten» von der Mutter, und der Vater würde auf seine Frau im Zusammenhang mit dem Besuchsrecht «grossen psychischen Druck» ausüben.

Der Bezirksrichter verbot dem Vater weitere Kontakte mit Julia. Ullrich erhob umgehend Einspruch. Die Unterstellungen der Frau entbehrten jeglicher Grundlage, und das Zeugnis sei wertlos. Die Kinderärztin habe ihn nie gesehen und sei von der Ausbildung her nicht befähigt, psychiatrische Beurteilungen abzugeben. Er bekam Recht. Es gebe keine konkreten Hinweise für sexuelle Übergriffe, entschied das zuständige Gericht, die Probleme lägen vielmehr in der Art der Durchführung der Besuche. Diese seien so zu gestalten, dass sich die Partner nicht zur selben Zeit am selben Ort aufhielten. Als das Jahr um war, hatten sich Vater und Tochter gerade fünfmal gesehen.

Im Frühling darauf, im März 1997, wurde die Ehe per mündliches Urteil geschieden. Der Mutter wurde das Sorgerecht zugesprochen, der Vater erhielt ein monatliches Besuchsrecht von zehn Stunden. Ab Einschulung würde dieses auf ein Wochenende pro Monat plus vierzehn Ferientage jährlich verlängert werden. Der erste fällige Vaterbesuch nach dem Urteil wurde von der Mutter verhindert, der zweite klappte einen Monat später Mitte Mai. Im gleichen Kindergarten wie die vorherigen Male. Ende Mai erhielt Ullrich einen eingeschriebenen Brief des Bezirksgerichts. Seine Hände begannen zu flattern, als er ihn öffnete. Dies passierte ihm seit der Trennung immer, wenn er behördliche Post bekam. Als er das Schreiben fertig gelesen hatte, musste er sich setzen. Das Gericht teilte mit, dass ab sofort das Besuchsrecht wieder sistiert sei.

Was war geschehen?

Die Mutter hatte über ihren Anwalt ein weiteres Begehren um Aufhebung der Kindsvaterbesuche gestellt. Erneut führte sie die Badewannengeschichte an, lieferte diesmal aber zusätzlich

einen Vorfall, der, seit langem beschworen, sich nach dem letzten Besuch des Vaters nun auch wirklich zugetragen haben soll. Die dreijährige Julia sei nackt auf dem Stubenboden gesessen, habe mit der Vagina gespielt und sich schliesslich den Finger hineingesteckt. Auf die Frage der Mutter, wie sie darauf komme, dies zu tun, habe die Tochter geantwortet, der Papi habe dies getan und ihr gezeigt, dass dies gut tue. Die «konsternierte Mutter» habe sogleich den Beistand informiert, und dieser sei an die Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich gelangt, um eine psychiat-rische Abklärung vornehmen zu lassen. Man wisse ja, schrieb der Anwalt, dass «das Thema sexueller Übergriffe gegenüber Kleinkindern heute ein weit verbreitetes Thema» sei. Der Schaden, den ein Kind bei einem solchen Übergriff erleide, sei enorm. «Ein ganzes Leben kann vernichtet sein.» Die Sistierung des Besuchsrechts sei daher nicht nur dann angezeigt, wenn ein sexueller Übergriff wirklich nachgewiesen werden könne: «Ein Risiko genügt.»

Seit Ende der Achtzigerjahre war eine zunehmende Fülle an Literatur über Missbrauch entstanden – Erfahrungsberichte, Romane, Aufklärungsbroschüren, Hintergrundwälzer, Abschlussarbeiten an psychologischen Instituten und pädagogischen Fachhochschulen. Parallel dazu schossen Beratungsstellen aus dem Boden, Scharen von Experten mit ernsten Gesichtern tauchten auf, Betroffenen-Workshops tagten, Kindergärtnerinnen und Lehrerschaft buchten Fortbildungsseminare, und die Medien fingen an, regelmässig und unablässig das «Tabuthema», den «verdrängten Skandal», «das bestgehütete Geheimnis» aufzudecken.

Als 1992 die Ausstellung «(K)ein sicherer Ort» auf Wanderschaft ging, existierte rund um das Thema Missbrauch bereits eine mittlere Industrie, die in den kommenden Jahren noch prosperieren sollte. Ein erstaunliches Phänomen. Ausgehend von kleinen Zirkeln obskurer amerikanischer Feministinnen, etwas später übernommen von deren deutschen Schwestern, hatte die gleichermassen zugespitzte wie hirnrissige These «Väter sind Täter» in wenigen Jahren die Köpfe der Mehrheit psychosozial Tätiger erobert, zumindest im deutschsprachigen Raum.

Wer die Statistiken und Zahlen, welche die Aufregung rechtfertigen sollten, anzweifelte, wurde im mildesten Fall als Verharmloser abserviert. Eher aber noch wurde er bezichtigt, Komplize des «Seelenmordes» oder gar selber ein versteckter Kinderschänder zu sein. Ein Klima des Kreuzzuges und der lustvollen Inquisition umgab das Thema. Dies war sicher eine Ursache, dass sich kaum kritische Stimmen meldeten. Dabei hätte es hinreichend vernünftige Gründe gegeben, die «Väter sind Täter»-These ins Reich der ideologischen Polemik zu verweisen.

Obwohl die Mordfantasien ihn nach den letzten Anwürfen wieder heftig heimsuchten, wählte Ullrich den zivilisierteren Weg. Er leitete einen erneuten Rekurs ein. Er wies das Obergericht da-rauf hin, dass er seit der Trennung von der Frau keine Sekunde mehr allein mit seiner Tochter gewesen sei. Und zum Zeitpunkt des vermeintlichen Übergriffs seien noch vier andere Väter mit Kindern plus zwei Sozialarbeiter im selben Raum gewesen. Auch der Nebenraum, wo man die Kinder gewickelt habe, sei immer offen und einsehbar gewesen. Man müsse schon ein recht krankes Hirn haben, sich im Ernst vorzustellen, dass es einen Vater gäbe, der an einem der seltenen Gelegenheiten, an denen er sein Kind sehen dürfe, diesem blitzschnell den Finger für ein paar Sekunden reinstecken würde, und das sozusagen öffentlich und unter den Augen von zwei Sozialarbeitern, die wie Häftlimacher aufpassten, was die Väter mit den Kindern anstellten. Diesen letzten Satz schrieb er allerdings nicht in den Rekurs. Dafür legte er diesem noch ein Schreiben der Betreiber des Kindergartentreffs bei:

«Xx., 6. Juni 1997

Zusammen mit den Jugendsekretariaten P. und R. bietet unsere Stelle, die Jugend- und Familienberatung des Bezirks Xx., monatlich einmal an einem Sonntag einen «Betreuten Besuchstag» an. Das Angebot ist von zwei einschlägig ausgebildeten Fachkräften betreut. Herr Ullrich ist nie in einer Situation beobachtet worden, die den Verdacht auf einen sexuellen Übergriff Herrn Ullrichs gegenüber Julia hätte aufkommen lassen. Im Weiteren sind die Lokalitäten überblickbar, und es besteht keine Möglichkeit, sich unbemerkt zurückzuziehen oder zu entfernen. Das würde den im Treff geltenden Verhaltensregeln auch widersprechen.»

Am 20. Juni wurde Julia gemäss Auftrag des zuständigen Richters von einer Psychologin der Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich wegen Verdachts auf sexuelle Übergriffe befragt. Das Interview wurde auf Video aufgezeichnet, und die Psychologin verfertigte anschliessend ein kurzes, anderthalbseitiges Gutachten. Dort kann man lesen, wie die Dreijährige mit offensichtlich gezielten Fragen und mittels anatomischer Puppen zu einer klaren Aussage geführt werden sollte. Ob sie auch schon irgendwo berührt worden sei, wo sie nicht wolle? Ja. Wo? Sie habe bei sich und der Puppe auf die Wange gezeigt. Der Papi streichle sie dort. Und andere Berührungen, die sie nicht wolle? Das Fudi. Der Papi habe sie dort berührt. An den Puppen jedoch, heisst es im Gutachten weiter, habe sie dies nicht genau zeigen können. Und sie habe sich auch nicht weiter auf das Thema einlassen wollen.

Die Psychologin charakterisierte diese Aussagen Julias als «knapp und wenig ausführlich» – eine Beurteilung, die auf einen Aussenstehenden eher übertrieben wirkte. Allerdings müsse betont werden, fuhr sie fort, und sie tönte ein wenig, als ob sie sich rechtfertigte, dass «klare Aussagen von so kleinen Kindern gegenüber Fremdpersonen selten sind und Detailangaben oft ganz fehlen». Und dann gelangte

sie zu einer rätselhaften, den kommunen Menschenverstand verblüffenden Schlussfolgerung: «Daher sind die Aussagen als Anhaltspunkte für sexuelle Ausbeutung zu werten.» Expertengeheimnis oder Würfelwerfen? Auf jeden Fall endete das Gerichtsgutachten mit der Empfehlung, wegen «Gefährdungsrisiko ein begleitetes, institutionalisiertes Besuchsrecht» einzurichten.

Und gab damit ein weiteres Rätsel auf. Wussten die Mitarbeiter der Kinderschutzgruppe tatsächlich nicht, unter welchen Umständen Ullrich die seltenen Treffen mit seiner Tochter absolviert hatte? Dass er in ständiger Begleitung von zwei und mehr erwachsenen Personen war? Möglich wäre es, denn sie hatten es nie für nötig befunden, mit dem Vater zu sprechen.

Eine Anfrage des Journalisten zwei-einhalb Jahre später sollte auch keine Klärung bringen. Ein leitender Arzt und Mitarbeiter der Kinderschutzgruppe teilte mit, dass man entschieden habe, keinerlei Auskünfte zu erteilen. Weder zum vorliegenden Fall noch zu allgemeinen Fragen des sexuellen Kindsmissbrauchs, wie Methoden der Befragung, Objektivität von Deutungen und so weiter. Im Verlaufe eines Telefongesprächs liess er sich doch noch einige Äusserungen entlocken. Konfrontiert mit dem Eindruck von Dürftigkeit und Willkür, den das Gutachten auf einen Aussenstehenden machen könne, erwiderte er, bei diesem Fall sei eben noch mehr dahinter. Was er meine? Das dürfe er nicht sagen. Ob er auf die Vorwürfe in den Scheidungsakten anspiele? Dazu könne er nichts sagen. Und dann sagte er noch, dass man am Kinderspital übrigens keine Interviews mit Dreijährigen mehr mache. Warum? Zu heikel. Ob das heisse, dass sie heute ein Gutachten Julia Ullrich nicht mehr machen würden? Nun, so könne man es auch nicht sagen.

Einer der wenigen, der die seit Jahren herumgebotenen Statistiken über Missbrauchsopfer und Täter öffentlich kritisierte, ist der Strafrechtler Martin Killias. In einem Aufsatz («Alarmierende Viktimisierungsraten», 1997) warnte er beispielsweise vor den gängigen «Techniken der Übertreibung» und vor den «völlig abenteuerlich wilden Hochrechnungen über die Anzahl angeblich jedes Jahr missbrauchter Kinder». Die «letztlich auf krassen Fehlinterpretationen» beruhenden Schätzungen könnten dazu führen, dass «sich Männer – als potenziell Hauptverdächtige des Missbrauchs – stärker aus der Betreuung der Kinder zurückziehen oder zumindest körperliche Kontakte auch harmloser Art vermeiden».

Bei Untersuchungen mit sehr grossen Stichproben aus der Gesamtbevölkerung, schrieb Killias in einem späteren Beitrag («Plädoyer» 5/98), zeige sich indessen, «dass eine kleine Minderheit von ein oder zwei Prozent (und oft noch weniger) aller Opfer von Vätern (im weiteren Sinn) missbraucht worden ist».

Wenn in einem Fachgebiet wissenschaftliche Nüchternheit eher schwach, dafür emotionales Meinen umso heftiger ausgeprägt ist, wenn Gefühle an Stelle von gesicherten Methoden tre-ten, dann wird Realität zum Spielball von Ideologien und Wünschen. Eine schlechte Voraussetzung, um beispielsweise ein Gutachten über sexuellen Missbrauch zu erstellen. Je nach vorgefasster Meinung, die irgendwo im Hinterkopf des Gutachters sitzt, wird die Diagnose ausfallen. Je höher er beispielsweise die Vätertäterzahl ansetzt, mit desto grösserer Sicherheit wird er beim untersuchten Kind Verdachtsspuren eines Übergriffs festzustellen glauben. Unabhängig davon, ob das Kind jemals in seinem Leben unsittlich berührt worden ist.

Monat um Monat verging, das Gericht liess nicht von sich hören, und Ullrich versuchte sich manchmal vorzustellen, wie gross Julia unterdessen sein möge und ob sie sich wohl noch an ihren Vater erinnere. Er schrieb ihr Briefe, fragte, was sie sich zu Weihnachten wünsche, und erhielt nie Antwort. Der Gedanke, ein quasi amtlich gestempeltes «Gefährdungsrisiko» für die eigene Tochter, ein sexueller Sauhund zu sein, stürzte ihn periodisch in ein Wechselbad von Hoffnungslosigkeit und kalter, rasender Wut. Er war dann kaum mehr fähig zu arbeiten, wie mechanisch spulte er seine Kundenbesuche ab, eine sprechende Körperhülse, und nachher musste er die Rapporte frisieren. Dabei ging es ihm noch gut. Die Eltern hielten zu ihm, die Schwester, die Kollegen, der Freund mit dem Buben, dem er Götti war. Andere Männer mit Geschichten wie die seinige hatten ihm erzählt, wie sie plötzlich alleine dastanden. Als ob sie Aussätzige wären. Wenn er dies hörte, ertappte sich Ullrich oft, wie ihm dabei ein Gedanke durch den Kopf schoss: Und wenn sie es trotzdem getan hätten? Und er wuss-te, dass man ebenso über ihn dachte.

Ein Jahr nach dem Kinderspital-Gutachten forderte das Obergericht, welches den Fall Ullrich gegen Röthlisberger behandelte, ein Zweitgutachten beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD) in Zürich an. Jetzt wurde neben Ex-Frau und Ex-Schwiegermutter erstmals auch Ullrich aufgeboten. Er bereitete sich gut vor und legte dem Psychiater eine akribische Aufstellung mit den verhinderten Besuchstagen und andere für die Frau nicht schmeichelhafte Papiere auf den Tisch. Der Psychiater notierte: Die Kränkung über das Scheitern der Ehe äussere sich beim Kv (Kindsvater) in Form einer «kontrollierten Aggressivität».

Die Frauen wiederum vermeldeten allerneueste Beobachtungen. Julia wür-de seit kurzem beim Spielen ihre Puppen völlig ausziehen und dann deren Mund, Ohren und Genitalbereich mit Klebestreifen verschliessen. Und vor einer Woche habe der Kinderarzt im Verlauf einer Untersuchung gefragt, ob er ihr «Fudi aluege dörfi». Julia habe geantwortet: «Ja, aber nöd drilange.» Der Psychiater hielt unter anderem fest, dass die Km (Kindsmutter) noch sehr unter dem Eindruck der schwierigen Ehegeschichte stehe. Es sei kaum vorstellbar, dass sie ihr «Bild vom Kv als gefährlichen und verabscheuungswürdigen Täter» nicht an Julia mitteile. «Emotional labil» und sich als Opfer erlebend, bestünde die Gefahr, dass sie auch bei der Tochter jede etwas aussergewöhnliche Äusserung in eine entsprechende Richtung interpretiere.

Und nebenbei protokollierte der Gutachter noch eine Aussage der Mutter: Diese habe, so erfuhr man hier zum ersten Mal, die Badewannenerektionen des Mannes gar nicht selber gesehen. Diese frühesten Vorwürfe bezogen sich nämlich auf eine angebliche Selbstbeschuldigung des damaligen Gatten. «Die Km hat diesbezüglich nie etwas Auffälliges beobachtet.»

Beim KJPD schaute man sich auch die vom Kinderspital auf Videoband aufgenommene Befragung Julias nochmals an. Während das Kinderspital die Aussagen Julias als «knapp und wenig ausführlich» beschrieb, erschienen sie dem KJPD-Gutachter hingegen als «unklar». Auch hinter das erste Urteil, das Sprachverständnis des Kindes sei gut, setzte man «ein Fragezeichen». Vielmehr habe man den Eindruck, dass Julia «längere, allenfalls etwas kompliziert strukturierte Sätze nicht wirklich versteht. Ihre Antworten wirken dadurch manchmal etwas zufällig».

Die Videoszene, in der Julia nach verschiedenem Nachfragen sagt, dass der Vater sie am Fudi berühre, worauf sie aufgefordert wird, dies zu zeigen, wurde im ersten Gutachten wie erwähnt geschildert: «Mittels der anatomischen Puppen konnte sie dies nicht genau zeigen.» Im zweiten Gutachten aber hatte man etwas anderes gesehen: «Julia wies zweimal eher wieder auf die Wange.» Und während das erste Gutachten fortfuhr: «Julia wollte sich hier nicht mehr weiter auf das Thema einlassen», konnte man im zweiten die überraschenden Sätze lesen: «Julia weicht auch allen Folgefragen aus. Und als die Untersucherin nochmals nachhakt, sagt sie plötzlich: Dä Papi hät mich nienet aglanget.»

Ein Teil des neuen KJPD-Gutachtens ging auf die allgemeine Problematik von Befragungen ein: «Es gibt keine psychologische oder psychiatrische Methode, mit der die Wahrheit einer Aussage bewiesen werden kann.» Insbesondere begäbe sich «der Gutachter auf wissenschaftlich ungesichertes Terrain, wenn es sich um sehr junge Kinder (3 bis 5 Jahre) handelt, wenn bei Erwach-senen im Umfeld des Kindes ein starkes Interesse an der Aussage des Kindes besteht oder wenn die Kinder schon mehrmals befragt wurden». Alles Voraussetzungen, die auf Julia zutrafen.

Umso erstaunlicher, dass die Vierjährige aber auch vom KJPD wieder vorgeladen wurde. Die drei Sitzungen konnten, so das Fazit, «wie schon befürchtet, zur Klärung der gestellten Fragen leider nicht beitragen». Gesamthaft betrachtet, würden so gewisse, «schwache Verdachtsmomente» gegen den Kv bestehen bleiben, obwohl diese «nie wirklich erhärtet werden konnten». Und einer der Schlusssätze des Berichts tönte wie eine präventive Rechtfertigung gegenüber dem angeschwärzten Vater. «Es liegt im Wesen der Sache», schreibt der Gutachter, «dass ein Verdacht bezüglich sexueller Übergriffe nie völlig ausgeräumt werden kann.»

Und letzterer Satz ist sicherlich der Grund für ein Phänomen, das von Volker Dittmann, Professor für Forensische Psychiatrie an der Uni Basel, bereits vor einigen Jahren beobachtet worden war. Ein Phänomen, wie er schreibt, das «uns leider zuvor in diesem Ausmass nicht bekannt war: die zumindest fragwürdige, nicht selten offensichtlich falsche Anschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs als «Waffe» in langwierigen Trennungs- oder Ehescheidungsverfahren» («Plädoyer», 2/97). Der inflationäre Gebrauch hatte den Missbrauchsbegriff für eine weitere Kampfzone tauglich gemacht. In Scheidungsschlachten avancierte er zum tödlichen Argument, um den männlichen Gegner von den Beinen zu holen.

Ullrichs Vertrauen in die so genannten Experten wurde auch durch das KJPD-Gutachten nicht gesteigert. Sie gaben ja selber zu, dass ihre Methoden nicht zuverlässiger waren als Kaffeesatzlesen. Dies war sein Eindruck, nachdem er den neuen, zwölfseitigen Bericht genau studiert hatte. Zwar hatte er mit leichter Genugtuung festgestellt, dass das erste Gutachten ziemlich auseinander genommen und die Ex-Frau als «emotional labil» bezeichnet worden war. Aber der «Verdacht» war noch da, auch wenn er nur mehr «schwach« war. Wie ein hässlicher, nicht abwaschbarer Fettfleck an der Hose blieb er an ihm kleben. Das einzig wirklich Positive am Gutachten war für ihn ein Satz von Julia. In der dritten Befragung hatte sie gesagt, dass sie «den Kv gern habe, er aber weit weg wohne». Sie hatte ihn nicht vergessen.

Ende September 1998 fällte das Obergericht endlich ein Urteil. Ullrich wurde erneut ein monatliches, begleitetes Besuchsrecht eingeräumt, wobei er nach Ablauf eines Jahres seine Tochter alleine zu sich auf Besuch nehmen durfte. Die Beistandsschaft sollte wei-terhin bestehen. Der Richter rehabilitierte Ullrich insofern, als er mit Bezug-nahme auf das KJPD-Gutachten beschied, dass sich «der Vorwurf eines Fehlverhaltens des Klägers nicht aufrechterhalten und die Gefährdung des Kindes in sexueller Hinsicht nicht begründen» lasse. Im Vorfeld der Verhandlung hatte Frau Röthlisberger, Ullrichs Ex-Frau, mittels schriftlicher Stellungnahme noch einmal ihre Position dargelegt. Sie werde, hatte sie ihrem Anwalt mitgeteilt, Julia «nie mehr diesem perversen Menschen (siehe meine ganze Ehe) aussetzen, und sei er tausendmal ihr Vater».

Ein Wohnortswechsel der Frau hatte nochmals eine mehrmonatige Verzögerung zur Folge gehabt, bis Ende Januar 1999, nach beinahe zwei Jahren Unterbruch, Ullrich sein Kind erstmals wieder sah. Die Zusammenkunft spielte sich im Beisein eines Psychologen ab, mit dem Ullrich sich vorgängig getroffen hatte. So war es mit dem neuen Beistand vereinbart worden. Ullrich fühlte sich unter einem wahnsinnigen Druck. Würde Julia ihn noch erkennen? Und wenn sie mit Widerwillen reagieren oder gar zu schreien anfangen würde? Er hatte Angst, dass der Besuch schlecht verlaufen und der Psychologe sagen würde, er sei nicht fähig, mit Kindern umzugehen.

Ein Mädchen kam zur Tür herein, streckte die Hand aus und sagte: «Guten Tag Papi.» Er hatte sie auf den ersten Blick nicht mehr erkannt. Julia war viel grösser geworden und redete anders, besser. Die Stunde verging blitzschnell. Sie spielten zusammen, er vergass den Psychologen, der auf einem Stuhl in der Ecke sass, sie war ein lustiges Kind, und jedesmal, wenn sie Papi sagte, löste sich drinnen in ihm etwas auf. Auf dem Heimweg fuhr er langsamer als sonst. Er konnte vor Schluchzen kaum die Strasse erkennen.

Die nächsten drei Besuche verliefen ungestört. Man machte kleine Ausflüge, ging ins Theater, besuchte eine Dinoausstellung. Der Beistand hatte noch gemeint, wenn Julia übrigens aufs WC müsse, würde er und nicht Ullrich mitgehen. Ullrich hatte dreimal tief durchgeatmet, bevor er ihm geantwortet hatte. Damit es klar sei, hatte er dann gesagt, Julia sei immer noch seine Tochter, und diese würde von ihrem Vater aufs Klo gebracht werden. Er, der Beistand, könne ihn aber begleiten und schauen, dass nichts passiert. Die Absprache erwies sich allerdings als unnötig. Julia ging an keinem der drei achtstündigen Besuche auch nur ein einziges Mal aufs Klo. Einmal hatte sie sich die Hände schmutzig gemacht. Die drei machten sich auf, um sie zu waschen, und als sie bei der Toilettentür ankamen, machte Julia plötzlich rechtsumkehrt und behauptete, jetzt seien die Hände wieder sauber.

Ab Mai fielen die Besuche zum vorläufig letzten Mal aus. Die Frau war an die Vormundschaft der neuen Wohngemeinde gelangt und hatte das Gutachten des Kinderspitals gezeigt. Als Ullrich darauf von zwei Sozialarbeitern der Amtsstelle zu einem Gespräch aufgeboten wurde, glaubte er in ihren Augen ein Wort lesen zu können: Sauhund. Wieder kam dieses Gefühl auf, vor einer Gummiwand zu stehen. Er wusste nicht, woher er die Kraft nahm, erneut zu prozessieren. Vielleicht war er besonders stur.

Nach einem halben Jahr, im Oktober 1999, durfte er Julia wieder sehen. Ab Dezember hätte er laut Gerichtsbeschluss alleine mit ihr zusammen sein dürfen. Zum ersten Mal seit fünf Jahren. Er werde sich hüten, sagte er, dies zu tun. Und er mache sich keine Illusionen über die Zukunft. Schon einmal habe er Julia auf dem Beantworter gehabt. Sie wolle ihn nicht sehen, hatte sie gesagt, sie wolle ihn überhaupt nicht mehr sehen. Und im Hintergrund habe er die Stimme der Mutter gehört, die ihr alles vorsagte.

Ob er selber keine Fehler gemacht habe? Doch, sagte Ullrich, damals, als er der Frau das Sorgerecht aberkennen wollte. Das sei ein Fehler gewesen. Zu stur eben und zu blauäugig. Aber, meinte er nach kurzem Überlegen, sie hätte die Besuchstage wohl trotzdem abgeklemmt.

Der Krieg wird weitergehen.

Alle Namen wurden geändert.

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