Die Weltwoche

01.05.2003

«Ich bin kein Koch, aber ich kann dich zerlegen wie ein Huhn»

Der Bürgerkrieg im westafrikanischen Liberia war ein Krieg der Kindersoldaten. Ein Besuch im traurigsten Land der Welt.

Von Eugen Sorg und Nathan Beck (Bilder) ·

Halb lauernd, halb schläfrig hatte uns der bewaffnete Halbwüchsige an einer der Strassensperren im Zentrum von Monrovia kurz gemustert, bevor er uns mit einem flüchtigen Kopfnicken zum Weitergehen aufforderte. Wir taten einige Schritte, als sich uns ein zweiter junger Mann in den Weg stellte. Er trug eine Art Hip-Hop-Kleidung mit Nike-Kopftuch, Britney-Spears-T-Shirt, weiten Hosen und riesigen Turnschuhen, und er begann sofort, wütend auf mich einzureden. Er sprach das hiesige Englisch, eine Form von Pidgin, und es dauerte einige Zeit, bis ich ihn verstand. Die Holzlatte der Strassensperre reichte nicht ganz bis zum Gehsteig, und ich hatte die Sperre durch diese Lücke passiert anstatt auf dem Gehsteig selbst. Und das war seiner Meinung nach ein grosser Fehler gewesen, ein gefährlicher sogar.

«Das», schnauzte der Hip-Hop-Mann, «ist strikte verboten.» – «Und wieso ist dies verboten?», wollte ich wissen. «Weil es verboten ist.» Er starrte mich drohend aus ungesunden gelblich roten Augen an. Er hatte offensichtlich Befehlserfahrung, und er wollte mich demütigen. Eine Weile schwiegen wir uns an wie zwei kampfbereite Hunde. Die Soldaten der Strassensperre beobachteten uns, einige Passanten blieben in sicherer Entfernung stehen. Es war eine lächerliche und ungemütliche Situation. Wir hatten kaum zehn Minuten zuvor das Hotel «Mamba Point» verlassen, es war unser erster Morgen in Liberia, ich wusste nicht, wie die Lage einzuschätzen war.

Hoffnung für die Pfefferküste

Die englische Zeitschrift Economist verlieh Liberia für das Jahr 2003 den Titel «Schlimmstes Land der Welt». Auf der Rangliste figuriert es noch hinter den Bürgerkriegsruinen Afghanistan oder Somalia. Was Wirtschaft, Sicherheit, Lebensqualität betreffe, sei es der Schandfleck unter den Nationen. Dabei hatte die Geschichte des westafrikanischen Landes hoffnungsvoll wie ein milder Frühlingsmorgen begonnen. Amerikanische Philanthropen hatten 1821 an der damaligen Pfefferküste für ein paar Fässer Rum, Tabak und Schiesspulver von den ansässigen Häuptlingen ein Stück Land erworben. Dort siedelten sie freigekaufte amerikanische Sklaven an, welche 1847 stolz die unabhängige Republik Liberia ausriefen. Den Staat schmückte eine der modernsten Verfassungen der Welt.

Die ehemaligen Haus- und Feldsklaven beeilten sich jedoch, das System ihrer früheren Herren zu imitieren. Die Americo-Liberianer, Congos genannt, flanierten in Südstaatlertracht durch die Hauptstadt, verachteten die Eingeborenen und bildeten für die nächsten 137 Jahre eine kleine, abgeschottete Aristokratie, welche alle Macht unter sich aufteilte.

«Ich werde dir Disziplin beibringen», schrie mich der Hip-Hopper auftrumpfend an. «Ach ja. Und wie?» Ich versuchte den Gelassenen zu spielen. «Fünfzig Kniebeugen, hier auf der Stelle», fuhr er fort und demonstrierte umgehend, wie die Übung auszusehen habe. Er ging vor mir in die Hocke, federte wieder hoch, winkelte dabei die Arme auf Kopfhöhe ab und steckte die Zeigefinger in die Ohren. Dies kam mir plötzlich derart absurd vor, dass ich in lautes Lachen ausbrach. «Ich wäre schon nach zwanzig Kniebeugen tot», prustete ich.

Der Hip-Hopper hielt inne. «Nur zwanzig?», fragte er und schaute mich an. «Und dein Freund?» Er zeigte auf Nathan, den Fotografen. «Der schafft die fünfzig ohne Probleme.» – «Und du nur zwanzig», wiederholte er kopfschüttelnd, «nein wirklich.» Die Stimmung war auf einen Schlag gekippt, und er hatte sich in einen völlig anderen Menschen verwandelt. Er begann ebenfalls zu lachen. «Wir wollen nicht, dass du stirbst. Du hast noch einiges Leben vor dir.» Er klopfte mir freundlich auf die Schultern. Alles Gewalttätige, Fiese war von ihm abgefallen. Er heisse Sla, zwinkerte er charmant, Sla George Geely jr., und er sei ein Angehöriger der Security des Präsidenten Taylor. Er zog einen in Plastik eingeschweissten Ausweis hervor, den er an einem Kettchen um den Hals trug. Aber eigentlich sei er ein Rapper, «a rapa», und er rappe jeden Abend. Zum Beweis sang er ein paar rhythmische Verse und fuchtelte dazu mit den Armen. Es tönte nicht schlecht.

Ein Putsch des 28-jährigen Feldwebels Samuel K. Doe beendete 1980 die schwarze Apartheid. Er überraschte Präsident Tolbert im Schlafzimmer, stach ihm ein Auge aus, vierteilte ihn, liess dessen Minister am Strand von Monrovia erschiessen, ernannte sich zum Fünfsternegeneral und rief sich als erster Nicht-Congo zum Präsidenten aus. Die frei gewordenen Posten ersetzte er mit 25-jährigen Unteroffizieren aus dem eigenen Stamm.

Die neue Regentschaft zeichnete sich aus durch einen horrenden Verschleiss an Staatskarossen, gigantische Korruption, Voodoo-Politik und das unablässige Aufdecken von Verschwörungen. Samuel Doe, Liebhaber grosser Brillen, halber Analphabet, Ehrendoktor der politischen Philosophie einer südkoreanischen Universität, konnte aber trotz der Hilfe der mächtigsten Fetischpriester des Landes nicht verhindern, dass er 1990 von bewaffneten Rebellen gefasst und abgeschlachtet wurde.

Liberia versank in einem mehrjährigen Bürgerkrieg, der auf Nachbarstaaten wie Sierra Leone übergriff. Der von den Staaten der Region entsandten Friedenstruppe gelang es kaum, Stabilität herzustellen. Unter der Führung Nigerias wurde sie selber Partei in einem Gemetzel, in dem zeitweise sieben verschiedene Grossbanden kämpften. Von den 2,5 Millionen Einwohnern wurden zwei Drittel zu Flüchtlingen, und an die 150000 wurden umgebracht.

Blutkarneval

Mehr als die Hälfte der Krieger waren Kinder. Die «small boys units», in denen auch Mädchen kämpften, galten als besonders grausam. Sie zelebrierten einen gespenstischen Karneval, einen apokalyptischen Alptraum wie aus der Welt von Hieronymus Bosch. In Frauenkleidern, Satinanzügen, Lumpen, Kirchenroben, nackt, stark geschminkt, mit blonden Perücken, sonderbaren Amuletten oder Schweisserbrillen töteten, plünderten, vergewaltigten und verstümmelten sie. Sie gaben sich Kampfnamen wie Earthquake Baby, Captain Cobra, Rebel King, General Saddam. Die Strassen Monrovias hiessen Crack Alley, Death Row, Highway to Hell, die Checkpoints wurden mit abgeschlagenen Köpfen verziert, und als Absperrseil dienten menschliche Därme.

Von einem «enthemmten Blutrausch» schrieb die nüchterne NZZ damals, dieses Land sei «tiefer gefallen als je denkbar» (21.12.1990). Und später erwähnte sie auch jenes Phänomen, über welches meistens nur hinter vorgehaltener Hand berichtet wurde und welches die härteste Herausforderung für ein aufgeklärtes, humanistisches Menschenbild darstellte: «…es kursieren Gerüchte von Ritualen des Kannibalismus und ähnlichem» (24.12.1994).

Sla wurde unser Guide in Monrovia. Er schien jeden in der Stadt zu kennen oder mit jemandem bekannt zu sein, der die betreffende Person kannte. Als Erstes hatten wir ihn gefragt, ob er uns mit ehemaligen Kindersoldaten zusammenbringen könne. Kein Problem, hatte er geantwortet und uns direkt von der Strassensperre in den Osten der Stadt geführt, in den einst noblen Vorort Oldest Congo Town. Dort, in einer heruntergekommenen Siedlung, lebte eine Gruppe Bürgerkriegsveteranen, Männer um die zwanzig, alleine oder mit Freundinnen, Kindern, Verwandten.

Die Leute kannten Sla offensichtlich, später zeigte sich, dass er selber dort wohnte. Trotzdem löste unser Besuch tumultuöse Reaktionen aus, und bald umringten uns schreiende, gestikulierende Männer. Wir waren in eine groteske, unwirkliche, furchteinflössende Szenerie geraten, in eine heillos aus den Fugen gerutschte Welt. Die ehemaligen Kindersoldaten wirkten wie defekte Roboter, denen man aus Versehen ein menschliches Herz eingebaut hatte.

Ein Hüne mit einer Wollmütze brüllte mir den Befehl zu, meinen Ausweis zu zeigen und ihm Turnschuhe zu kaufen. Er deutete dabei auf seine Beinprothese, an der eine Plastiksandale steckte. Ein anderer demonstrierte eine offene, eiternde Beinwunde und wiederholte unablässig «no treatment», «keine Behandlung». Es klang nicht wie eine Klage, sondern wie eine Drohung. Ein schwankender Rastamann zwang Nathan, vor ihm zu salutieren, während ein Junge in einem schmutzigen, gelben Leibchen sich durch die Menge pflügte, mir einen Ausweis auf die Brille drückte, sein wutverzerrtes Gesicht so nahe an mein Gesicht schob, dass ich seinen kranken Atem riechen konnte, und immer wieder schrie: «Ich bin ein berühmter Kommandant. Du bist verhaftet.»

Ich schaute mich nach Sla um, doch der war verschwunden. Es war zehn Uhr morgens, der Jungkommandant war sturzbetrunken oder sonst wie verladen, so wie etliche seiner Kollegen. Vielen fehlte ein Bein oder ein Arm oder ein paar Finger, einige hatten ein zerfetztes Ohr, eine eingedrückte Stirn oder ein totes Auge, jeder hatte Narben verschiedenster Art und Grösse. Und ständig humpelten oder eilten neue Leute herbei, bellten sinnlose Kommandos, stierten verstört oder fingen mit dem Nächsten grundlos einen furchtbaren Streit an, um ihn ebenso schnell wieder zu beenden und in eine Art Lethargie zu verfallen.

Endlich tauchte Sla wieder auf. «Wir gehen», meinte er nur und tönte diesmal wie ein Regierungsbeamter, «ihr braucht eine Bewilligung des Informationsministeriums, um mit den Leuten hier zu reden.» Kaum traten wir einige Schritte aus dem Kreis heraus, erlosch das Interesse des Jungkommandanten und der anderen an uns augenblicklich, als hätten wir nie existiert. Nur eine kleine Gruppe folgte uns bis zur Strasse, darunter ein aufgeregter Kahlrasierter mit einer schlecht verheilten Kopfwunde und geröteten Augen. Er versuchte die ganze Zeit, mir etwas zu erklären, um sich plötzlich abzuwenden und auf eine junge Frau zuzusteuern, die hinter uns den Compound verliess. Wortlos krallte er eine Hand in ihr Haar, riss ihren Kopf nach unten und fing an, die andere, geschlossene Hand in ihrem Gesicht auf und ab zu reiben. Das Mädchen schrie, schlug um sich, versuchte, seine Hand wegzustossen. Er aber hatte sich wie festgebissen, war nicht abzuschütteln. Niemand schritt ein, und erst nach einer Ewigkeit liess er unvermittelt von ihr ab. Sie wimmerte und drehte sich stampfend um sich selbst. Von oberhalb des rechten Auges bis zur Wange leuchtete eine frische Wunde, rosaviolett, breit. Der Kahlrasierte hatte ihr mit einer Rasierklinge, die er die ganze Zeit schon in der Hand gehalten hatte, das Gesicht zerschnitten.

«Rache», sagte Sla, «dies war Rache. Das Mädchen hatte zuerst den Mann mit einer Flasche verletzt.» Sla redete völlig ungerührt, als sei die Angelegenheit bedeutungslos und alltäglich. «Was passiert jetzt?» – «Man bringt ihn ins Gefängnis, und dort wird er verprügelt und eingesperrt.» Auch für die Übrigen schien die Sache beendet. Die junge Frau verschwand nach einer Weile leise schluchzend, ohne dass einer sich nur einen Moment um sie gekümmert hätte, während der Angreifer, der jetzt einen ruhigen Eindruck machte, sich widerstandslos von zwei Kollegen wegführen liess. Es sah friedlich aus, als seien die drei unterwegs zu einer Bar.

Geschichten, lapidar und furchtbar

Die Rebellion gegen Doe war vom damals 42-jährigen Charles Taylor gestartet worden. Der weltgewandte Absolvent eines Ökonomiestudiums in Boston erwies sich als schlauster und stärkster der Kombattanten. Nachdem alle vorherigen Friedensabkommen gebrochen worden waren, wurde dasjenige von Abuja 1996 eingehalten. Taylors Truppen waren mittlerweile militärisch klar dominierend. Die Präsidentschaftswahlen vom folgenden Jahr gewann Taylor mit 75 Prozent der Stimmen.

Friedensvermittler und Ex-US-Präsident Jimmy Carter sprach angesichts des friedlichen Verlaufs von einem demokratischen «Wunder». Etwas realistischer sahen es die Liberianer. «You killed my pa. You killed my ma. I’ll vote for you» (Du hast meinen Vater getötet. Du hast meine Mutter getötet. Ich stimme für dich), riefen sie an den Wahlveranstaltungen Taylors. Alle wussten, dass er eine Nichtwahl nie akzeptieren würde. Sie würde den sofortigen Krieg bedeuten.

Präsident Taylor herrscht wie ein Gangsterboss über das Land. Liberia ist reich, im Boden liegen Diamanten, Gold, Eisenerz, es hat Wasser im Überfluss, in den Wäldern wachsen wertvolle Hölzer, unter seiner Flagge segelt die zweitgrösste Flotte der Welt. Aber es existiert nicht einmal ein offizielles Regierungsbudget. Der nationale Reichtum wird von Taylor als persönlicher Besitz behandelt. Sein Lebensstil ist aufwendig, und der seiner Familie ebenfalls. Die vielen Freundinnen erwarten grosszügige Geschenke. Die hohen Richter und Minister ebenfalls, damit sie weiterhin so tun, als gäbe es eine richtige Justiz. Und auch die Killer und Schläger seiner Geheimdienste und Sicherheitstruppen müssen bei Laune gehalten werden, sonst können sie sein Leben nicht mehr schützen. Da bleibt nichts mehr übrig für den Rest der Bevölkerung, von der 85 Prozent keine Arbeit haben. Nichts mehr für Spitäler, Schulen, Strassen. Und Monrovia bleibt eine Müllhalde ohne fliessendes Wasser und Strom.

Nachdem wir uns mit Hilfe von Sla und einigen Dollars ein Papier mit Stempel des Informationsministeriums besorgt hatten, besuchten wir in den kommenden Tagen noch ein paarmal den Compound im Osten der Stadt. Obwohl sich jedes Mal die chaotischen Szenen wiederholten, gelang es zwischendurch, sich mit einigen der ehemaligen Krieger in Ruhe zu unterhalten. Ihre Geschichten hörten sich alle ähnlich an, lapidar und furchtbar.

Roland, ein 18-Jähriger mit weichen, mädchenhaft hübschen Zügen, war neun, als er sich im Landesinnern einer «small boys unit», einer Einheit Kindersoldaten des Kriegsfürsten Taylor, anschloss. «Wurdest du gezwungen?» Er schaute einen Augenblick lang verdutzt, als habe er darüber noch nie nachgedacht. «Ich war auf mich gestellt», meinte er schliesslich. «Die Eltern waren wegen des Kriegs in den Busch gerannt. Und bei den Soldaten gab es zu essen.»

Nach vier Monaten wurde er von seinem Kommandanten, Colonel Bad Bad Thing, einem 15-Jährigen, zum ersten Mal in den Kampf geschickt. Wenn man gehorche, sagte Roland, habe man ein gutes Leben, dann werde man nicht geschlagen. Sie schlichen sich so nahe an den Feind heran, bis sie ihn sehen konnten, es waren ebenfalls Kinder, sie stürmten schreiend los, Rolands Finger krümmte sich um den Abzug seiner Kalaschnikow, die er einem toten Kollegen abgenommen hatte, und er hielt den Abzug noch gedrückt, als das Magazin längst leer geschossen war. Vor dem Angriff habe er Angst gehabt, sagte er, im Kampf nicht und auch danach nie mehr. «Du denkst nichts, du bewegst dich einfach vorwärts.» Er lachte, und auch die Kollegen ringsum stimmten ins Lachen ein.

Wie alle anderen hatte auch Roland einen Kriegernamen bekommen: Dirty Way (Schmutzige Tour). Auf die Frage, wie er sich diesen Namen verdient habe, zögerte er, worauf ein einhändiger Kollege intervenierte. «Schau her», sagte dieser und zog Rolands T-Shirt hoch. Auf dessen Brust, aber auch auf den Armen und Händen sah man viele vernarbte Schnitte. «Dies sind Messerstiche», fuhr er fort, «aber alle von den eigenen Soldaten. Man nannte ihn Dirty Way wegen seiner schlechten Manieren, er hatte oft Streit und wurde dafür bestraft.» Wieder fanden das alle lustig, und Roland lächelte verlegen wie einer, der eben zum bestaussehenden Jungen der Klasse erklärt worden war.

«Was heisst bestraft?», fragte ich. «Hör zu», antwortete der Einhändige, «unser Kommandant hiess Lepu Father, genau wie ein alter berühmter Stammeskrieger. Er war 15, ein Dreisternegeneral, und er machte mit den Leuten keine Witze. Du gingst an die Front, oder er tötete dich auf der Stelle. Und wenn er dich schlug, dann löste sich deine Haut ab, noch bevor die Zigarette in seinem Mund zu Ende geraucht war. Du konntest während dreier Tage keinen Schritt mehr tun. Er war sehr stark.» Die anderen nickten zustimmend. «Oder du kamst ins Loch.» – «Ins Loch?» – «Du musstest eine Grube graben, dich rein kauern, sie deckten das Loch mit Ästen zu, und während zweier oder dreier oder mehr Tagen durftest du nicht mehr raus.» Erneut lachten alle.

Beim ersten Mal weinte er

Der einhändige Erzähler hiess Jeffrey, Kriegername Jungle Lion, und er war zehn Jahre alt, als er eines Nachmittags von der Schule heimkam und ein verlassenes Haus vorfand. Seine Familie war geflüchtet. Dafür waren Taylors Soldaten da, und Jeffrey ging mit ihnen mit. «Viele andere Kinder aus dem Dorf schlossen sich an. Das ermutigte mich sehr.» Das war 1991, und er hat die Eltern seit damals nicht mehr gesehen. Er fühle, dass sie noch leben, meinte er. Aber er hat noch nie ernsthaft daran gedacht, sie zu suchen. «Hier ist meine Familie», sagte er mit einer Kopfbewegung zu seinen Kollegen hin.

«Und wir passen auf, dass er nicht durchdreht», rief jetzt Darlingston alias Lucifer, ein schlauer, früh gealterter 21-Jähriger, der wie eine Mischung aus Eddie Murphy und Speedy Gonzales aussah. Darlingston hielt das erste Gewehr in den Händen, als er acht war, seine Einheit sollte Monrovia stürmen, und er weinte – ob aus Angst, töten zu müssen, oder aus Angst, getötet zu werden, wusste er später nicht mehr. Bald konnte er überhaupt nichts mehr fühlen. Vor einem Angriff tranken sie Zuckerrohrschnaps, rauchten Marihuana, schluckten Pillen, nach einem Angriff ebenfalls und in der Zeit dazwischen sowieso.

«Krieg ist Dschungeljustiz», fuhr Darlingston fort, «das Gesetz ist unerbittlich. Bei FFI, Failure to Follow Instruction (Befehlsverweigerung), wird auf der Stelle hingerichtet. Manchmal schiesst der Kommandant, manchmal musst du den Kollegen erschiessen. Dies ist uns egal. Es ist ein Befehl. Wir sind Kämpfer. Töten ist so normal wie Reis essen.» – «Und was habt ihr mit Zivilisten gemacht?» Er schaute mich einen Moment lang durchdringend an. «Wenn ich dir begegne und ich wütend bin, prügle ich dich mit meinem Gewehr. Wenn ich nicht wütend bin, prügle ich dich ebenfalls mit meinem Gewehr. Für mich bist du ein Niemand, ein Baby. Kapierst du? Du bist kein Ziel, kein Feind. Ich bin Soldat. Den Feind töte ich. Den Zivilisten nicht.» Er rieb sich den Stumpf seines amputierten Beines und grinste.

Dann erzählte er, dass er neun ältere Geschwister habe, dass alle in Amerika lebten und dass sie es nicht gerne hatten, dass er Soldat war. «Sie haben Angst vor mir. Als hätte ich Lepra. Als wäre ich ein Tiger. Als könnte ich jederzeit explodieren und jemanden umbringen.» Er verzog das Gesicht und brüllte los wie ein Raubtier. «Sie wollen, dass ich rüberkomme zu ihnen. Aber sie verstehen nicht, was hier passiert ist. Wenn ich in Amerika bin und mich der Zweite fragt, warum ich gekämpft habe, dann hacke ich ihm dem Kopf ab.» Unter den Kollegen brach Heiterkeit aus. Offensichtlich schienen sie genau zu wissen, was er meinte.

«Ich bleibe da. Mir gefällt es. Jetzt ist es ruhig. Wenn ich Reis will, habe ich Reis. Wenn ich Bier will, habe ich Bier. Ich will nichts verändern, verstehst du, es wäre zu hart für mich.» Ich schaute ihn fragend an. «Ich bin nicht ganz richtig da drin», er zeigte auf seinen Kopf, «mein Geist ist gestört. Aber hier sind alle wie ich. Sie verstehen mich.» Die Runde nickte.

Einmal fragte ich, was das Gute am Krieg gewesen sei. Sie überlegten nicht lange. «Alles war erlaubt», sagte Jeffrey Jungle Lion, «wir waren frei und konnten tun, was wir wollten.» – «Zum Beispiel?» Ein Glitzern leuchtete in den Augen auf. «Alles», sagte Darlingston Lucifer. «Waren wir hungrig, holten wir uns beim Bauern eine Kuh. Wollten wir Reggaemusik von Loki Doobie hören, holten wir aus dem Geschäft einen Recorder und die Kassetten. Wir brauchten kein Geld. Wir waren mächtig, alle fürchteten uns, jeder gab, was wir verlangten.»

Lucifer und Co. berichteten von ihren Erlebnissen, als ob es sich um normale Dinge handelte, um Jugendstreiche oder Velotouren. Ich merkte, wie ich innerlich diese Selbstverständlichkeit übernahm. Nur eine Kleinigkeit irritierte. In bestimmten Situationen und wie auf ein stilles Kommando tauschten die jungen Männer kurz Blicke, feixten einander zu, als würden sie sich gegenseitig vergewissern oder in einer Abmachung bestätigen. Es war klar. Sie verschwiegen uns vieles, und sie hüteten Gruppengeheimnisse, neben denen sich das bisher Gehörte nett und harmlos ausnehmen musste.

Hip-Hopper Sla hatte sich an den Gesprächen auf dem Compound nie beteiligt. Aus irgendeinem Grund rückte er erst nach Tagen bei einem Bier heraus, dass er ebenfalls ein Kämpfer gewesen sei. Ein sehr guter, behauptete er, wegen seiner Unverwundbarkeit Bullet Bouncer (Kugelabpraller) getauft und schon mit 14 Kommandant bei der Artillerie. Zum Beweis buchstabierte er auf einen Zettel: «Attillary», darunter: «B.Z.T.», was der Name seiner Truppe sei, und zeichnete mit kindlicher Genauigkeit ein Flugabwehrgeschütz. Sla konnte im Gegensatz zu den allermeisten seiner Mitkämpfer ein wenig lesen und schreiben und nützte stolz jede Gelegenheit, dies zu demonstrieren.

Als ich wissen wollte, was er von den Erzählungen seiner Kollegen halte, ging er nicht direkt darauf ein. Stattdessen kritzelte er auf den Zettel: «DoDoBoy» und fragte mich, was dies sei. Ich hatte keine Ahnung, worauf er ein überlegenes Gesicht schnitt und meinte, dies sei natürlich ein Flugzeug. Dann schrieb er: «WAR» und schaute mich auffordernd an. «Nun, was bedeutet das?» Erneut zuckte ich mit den Schultern. «Mann», lachte er und schaute mich mitleidig an, «wie kann jemand so ignorant sein. Nichts weisst du, nichts.» Kopfschüttelnd schrieb er die Lösung hin: «WAR = Wave All Rules» (Vergiss alle Regeln).

Folter-Video als Verkaufsrenner

Eines Tages führte mich Sla zu Ernest Whisnet, einem zirka 45-jährigen Primarlehrer und Evangelisten. Der Mann war 1990 Zeuge gewesen, als Rebellenführer Prince Johnson den damaligen Präsidenten, Samuel Doe, durch eine List im Hafen Monrovias gefangen genommen und zu Tode gequält hatte. Die mehrstündige Tortur wurde von einem Palästinenser, der als eine Art eingebetteter Journalist Johnsons Truppe begleitete, auf Video aufgenommen, Ernest war der Assistent des Palästinensers. Das Video wurde ein Renner in Liberia und im benachbarten Sierra Leone. Dreizehn Jahre danach empfing uns Ernest in seiner Schule, einem armseligen, aber sauber aufgeräumten ehemaligen Lagergebäude, wo er auch seine Gottesdienste abhält. Er war ein schüchterner, liebenswürdiger Mann, der aussah wie Homer Simpson mit traurigen Augen.

Zuerst habe man Präsident Doe in die Knie geschossen, erinnerte er sich, darauf nackt ausgezogen, die Arme hinter dem Rücken zusammengeschnürt und immer wieder geschlagen und getreten. Mit Stiefeln, Stöcken, Gewehrkolben. Dann habe man ihm das eine Ohr abgeschnitten, er musste es essen, dann das zweite. Er röchelte nach Wasser, und man schüttete ihm Bier über den Kopf. Er bettelte, man möge ihm die Fesseln lockern, und er wurde verhöhnt, er könne sich ja unsichtbar machen. «Um Mitternacht, nach sieben Stunden, haben sie Doe mit einem Dolch kastriert. Zwei Stunden später, am 10. September, starb er», sagte Ernest. «Ich war die ganze Zeit dabei. Ich hatte Mitleid mit ihm. Aber das durfte man nicht zeigen.»

Sla meinte: «Das ist Krieg», und Ernest pflichtete ihm bei. Ich fragte: «Ohren essen? Kastrieren?» Beide nickten aufmunternd, als wäre ich etwas schwer von Begriff und hätte endlich etwas verstanden. «Alle Kriegsparteien taten es», setzte Sla hinzu, «und nicht nur das.» Ernest berichtete von einem Treffen wichtiger Taylor- und Prince-Johnson-Kommandanten, die damals, 1991, für kurze Zeit wieder einmal zusammenspannen wollten. Die Taylor-Fighters hätten sechs Soldaten der westafrikanischen Friedenstruppe gefangen genommen, alles Nigerianer, ihnen die Herzen herausgeschnitten und den Kommandanten serviert. Als Geste der neuen Zusammenarbeit. Er, Ernest Whisnet, sei zufällig dabei gewesen.

Er kenne Kommandanten, fuhr Sla fort, die trugen immer einen Sack voller frischer Menschenherzen mit sich herum. Einer habe sie jeweils in genau gleich grosse Stücke geschnitten, Gin darüber gegossen und gerecht an seine Leute verteilt. Und ein anderer, Colonel Fuck Care, habe gesagt, er esse wann immer möglich zwei ganze Herzen zum Frühstück. Ernest pflichtete bei, das habe er auch schon gehört.

Nun wollte ich es genau wissen. «Werden die Herzen bei lebendigem Leib herausgeschnitten?» – «Ja», sagte Sla. «Isst man sie gekocht, grilliert oder roh?» Sla schaute mich plötzlich mit jenem seltsamen Blick an, der mir schon bei seinen Kumpanen vom Compound aufgefallen war: gleichzeitig schlafwandlerisch, prüfend, irr. «Ich bin kein Koch», sagte er schliesslich ruhig, «ich bin Artillerist. Aber ich will ehrlich sein. Ich kann dich zerlegen wie ein Huhn oder eine Ziege.» Dazu machte er eine schnelle, routiniert wirkende Schnittbewegung um mein Herz herum. «Warum essen die Leute das?» – «Um mutig und stark zu sein.» Ernest ergänzte: «Das Herz ist der Motor.» – «Wirkt es?» Wieder bekam Sla diesen sonderbaren Ausdruck. «Es beschützt. Du siehst, ich lebe noch.»

Ob dies wirklich alle getan hätten, vergewisserte ich mich. Alle, versicherten die beiden ernsthaft. Sie schienen einen unerschöpflichen Fundus an Geschichten zu haben. Die meisten Kämpfer, fuhr Sla fort, trügen Amulette aus Testikel. Seien sie einem Bauern abgeschnitten worden, erschiesse man ihn nachher. Einen feindlichen Kämpfer aber würde man am Leben lassen, damit er länger leide. Die Hoden würden zwei oder drei Tage im Ofen geräuchert, richtig, wie die Fische, bis sie klein und hart seien, und würden anschliessend um den Hals oder die Hüften gehängt. Und in seiner Einheit habe damals ein Mädchen gekämpft, Ma Nut Bear (Mama Nussträgerin), eine 14-Jährige, die vor den Einsätzen männliche Genitalien gekocht und gegessen habe.

Der Mensch ist gut

Auch weibliche Geschlechtsteile, setzte Ernest hinzu, gälten als sehr wirksam. Man hole sich eine Frau – irgendeine, egal ob schön oder hässlich -, halte sie an Armen und Beinen fest und schneide ihre Klitoris heraus. Getrocknet trage der Kämpfer diese an einer Schnur um den Bauch. Die Schreie der Frau gingen so auf ihn über, und er würde mächtig. Wenn er auf den Feind treffe, befehle er ihm, die Waffe niederzulegen, Schuhe und Kleider auszuziehen und niederzuknien. Dieser gehorche wie unter Zwang. Und der Kämpfer könne ihn erschiessen. Ernest meinte, dies sei der Glaube der Leute aus dem Hinterland, den er als Americo-Liberianer nicht teile. Seiner Stimme fehlte aber jeglicher Unterton der Entrüstung oder Distanzierung. Er schien diese Auffassungen nicht absurd zu finden. Lediglich seine Augen schauten etwas bekümmerter als ohnehin schon.

Als Sla noch eine Geschichte über das Trinken von Menschenblut vorbringen wollte, winkte ich ab. In der letzten halben Stunde hatte ich immer häufiger auf seine Zähne starren müssen. Mir war bisher gar nicht aufgefallen, dass sie spitz und gelblich waren. Ich wollte nichts mehr hören. Ich hatte genug.

Am nächsten Morgen erzählte ich Wallace Mutada* (Name geändert) von unseren Gesprächen über magische Kampftechniken und Kannibalismus. Wallace ist Chef einer von europäischen Spendern finanzierten Hilfsorganisation, die sich um die Wiedereingliederung von ehemaligen Kindersoldaten bemüht. Dem sympathischen, klugen 30-jährigen Liberianer, der in England studiert hatte, war das Thema unangenehm. Jeder im Lande wisse um diese Dinge, erwiderte er kühl, sie seien eine Schande für Afrika. Warum sie wohl passiert seien, fragte ich ihn. Er wurde aufgebracht. «Ein normaler Mensch», sagte er laut, «ein normaler Mensch kann kein Menschenfleisch essen. Dies trennt den Menschen vom Tier.» – «Offenbar haben es viele getan.» – «So was tun Normale nicht. Sie waren Kinder, und sie waren unter Einfluss. Das sind Drogenideen. Sie glitten auf einer Welle, fühlten sich als Herren der Welt und hatten keine Achtung mehr für irgendjemanden. Die anderen waren für sie bloss Spielzeug oder Tierchen.»

Er machte eine kleine Pause, schüttelte angewidert den Kopf und sprach leise weiter. «Es verschlägt dir den Appetit und macht dich krank, wenn du darüber nachdenkst. Es macht dich krank, wenn du diese Leute siehst. Sie sind jetzt bei der Polizei und der Armee, und sie nehmen immer noch Drogen. Du möchtest sie schlagen und vertreiben. Aber du darfst ihnen nicht mal in die Augen schauen.»

«Hängt die Menschenesserei mit dem traditionellen Glauben zusammen?» Er verfiel wieder in einen kühlen Ton: «In Monrovia gab es diese Dinge nicht, sie passierten nur ausserhalb. Die Leute dort im Busch leben in einer anderen Welt als wir. Wer gebildet ist, sieht den Unterschied zur Tradition. Wir in Monrovia sind gebildet, wir tun diese Dinge nicht.» – «Charles Taylor ist ein kultivierter Mann aus Monrovia mit einem amerikanischen Hochschulabschluss. Andere Warlords haben ebenso an Universitäten studiert. Trotzdem haben sie mit ihren halbwüchsigen Fighters diese Dinge getan.» Wallace schaute mich entschuldigend an: «Wenn es dir recht ist, werde ich nicht über unseren Präsidenten sprechen.» Er dachte einen Moment nach. «Unsere Situation ist nicht einfach. Die Regierung ist misstrauisch gegenüber Hilfswerken. Unsere Büros wurden schon zweimal geschlossen, und die Militärs schleppten alles ab, Stühle, Tische, Computer. Wir haben nichts mehr davon gesehen.» – «Eine andere Frage: Was macht eine Gesellschaft mit einer ganzen Generation aufs äusserste verwilderter Kinder?»

Jetzt wechselte seine Stimmung, und er schien geradezu aufzublühen. In einem perfekten Vortrag skizzierte er ein Strategiekonzept für die Lösung der ökonomischen, politischen, sozialen Probleme seines todkranken Landes. Seine Schlüsselworte waren Transparenz, dezentrale Strukturen, Aufklärung, Empowerment, Partizipation, Genderpolitik, Graswurzelrevolution, und hinter diesen Begriffen zeichnete sich der sanfte Schattenwurf einer bukolischen Gemeinschaft ab. Wallace vertrat brillant das rousseausche Weltbild der internationalen NGO-Community, die Sozialphilosophie der akademischen Späthippies, für welche der Mensch grundsätzlich gut und Macht grundsätzlich schlecht ist. Je länger er sprach, desto unwirklicher wurden Killerkinder und Blutvoodoo und umso realer wurde das Projekt der friedfertig vernetzten Dörfer, der Gesellschaft als fröhlichem Workshop.

Verhaften, zuschlagen, liegen lassen

Wallace war mit seinen Ausführungen fast zu Ende, als Nathan und Sla hinzustiessen. Sie waren in der Stadt unterwegs gewesen, Nathan hatte fotografiert. Kaum hatten sich die beiden hingesetzt, wurde die Tür aufgestossen, und eine Truppe Soldaten stampfte in den Raum. «Mitkommen», bafften sie und meinten damit Sla und uns Weisse, und ihre Gewehre und feindseligen Mienen machten klar, dass jeder Widerspruch eine Dummheit wäre. Während Wallace wie versteinert vor Angst sitzen blieb, wurden wir im Eiltempo durch zwei Strassen gehetzt, um schliesslich ein schäbiges, dreistöckiges Gebäude zu betreten. Sla wurde in ein Hinterzimmer, Nathan und ich in ein kleines Büro geführt, ein Raum so trostlos wie eine Marthaler-Bühne. Die Bewaffneten hinter uns schlugen die Stiefel zusammen, als ein älterer Uniformierter mit hagerem Gesicht eintrat, sich uns gegenüber hinters Pult setzte und uns grimmig musterte.

«Wo sind wir?», fragten wir. Er gab keine Antwort, sondern examinierte misstrauisch die Pässe und Bewilligungspapiere, die wir ihm vorgelegt hatten. Wir versuchten es erneut. «Wo sind wir?» Er schaute auf. «Im Militärministerium.» – «Warum?» – «Ihr habt militärische Anlagen fotografiert. Das ist strengstens verboten.» – «Haben wir nicht gemacht.» – «Die Soldaten haben euch gesehen.» – «Das kann nicht sein.» – «Wir werden das untersuchen.»

Dies war unsere dritte Verhaftung in Monrovia innerhalb einer Woche. Die früheren Festnahmen hatten Männer in Zivil vorgenommen, Angehörige des SSS, eines der gefürchtetsten der diversen Geheimdienste. Sie fuhren uns mit ihren Personenwagen in schimmelige Häuser, überprüften umständlich die Echtheit unserer Papiere, konfiszierten kurzzeitig die Kamera, liessen die Filme entwickeln, gaben alles wieder zurück, mit Ausnahme einiger Negative von Ex-Fighters, und liessen uns nach ein paar Stunden wieder laufen. Es waren unangenehme, unberechenbare Begegnungen. Zusätzlich waren wir bestimmt zwanzig Mal auf der Strasse kontrolliert worden. Von jüngeren Männern wie Sla, mit Ausweisen oder Gewehren. Die Stadt schien von Spitzeln zu wimmeln.

Der Hagere fragte, welche Route Nathan und Sla genommen hätten. Bei der Kirche runter, mmh, beim Friedhof rechts, gut, wieder hoch über die Gurley Street. «Aha», kreischte der Hagere, skizzierte einen Plan auf einen Zettel und hielt ihn triumphierend hoch. «Genau um das Ministeriumsviertel herum. Er hat die Koordinaten fotografiert. Sehen Sie?» Der Raum war unterdessen voll mit Soldaten, im Türrahmen drängten sich Muskelprotze mit Baseballmützen, Walkie-Talkies und verräterisch glänzenden Augen, und sogar der Stabschef, ein besoffener Dicker mit dumpfem Gesicht, war gekommen, um die reichen Spione zu begutachten.

Wir schüttelten den Kopf, aber der Hagere witterte seinen grossen Tag. «Wir wissen, wie man so was macht», schrie er und griff Nathans Kamera. «Eine smarte Kamera. Weiter Winkel.» Er befahl Nathan, den Film herauszunehmen, gab einem Soldaten den Auftrag, diesen ins Labor zu bringen, und blickte kurz zu uns: «Ich hoffe für euch, ihr habt nicht gelogen.»

Zwei Soldaten brachten Sla. Sie hatten ihm Kopftuch, T-Shirt und Schuhe abgenommen. Er setzte sich auf den Boden, ergeben, kraftlos, Gesicht nach unten, in der Unterwerfungshaltung des Kriegsgefangenen. «Er ist Liberianer. Er kennt die Regeln. Er wäre verpflichtet gewesen, euch zu warnen», sagte der Hagere verächtlich. Sla deutete den Versuch an, etwas zu sagen. Er wurde sofort zusammengebrüllt.

Der Raum hatte sich wieder geleert, und Nathan und ich traten auf einen kleinen Balkon, um etwas Luft zu schnappen. Nathan schaute düster. Er wusste, dass auf einigen Bildern Teile des Ministeriums zu sehen waren. Auch ein berüchtigtes Gefängnis für politische Gefangene. Sla hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Sla hatte aber auch erzählt, was die Sicherheitsleute und die Soldaten mit den Verhafteten alles anstellen würden.

Die Verhafteten, hatte er berichtet, würden routinemässig schwer zusammengeschlagen. Und einfach liegen gelassen. Oft stürben sie danach. An Kopfverletzungen oder inneren Blutungen. Aber niemand würde auf dem Posten nach ihnen fragen. Die Angehörigen oder Freunde hätten Angst, ebenfalls spurlos zu verschwinden. Viele Sicherheitsleute seien ehemalige Kindersoldaten, die allermeisten von ihnen drogensüchtig: Crack, Kokain, Heroin, Amphetamin. Sie seien auch süchtig nach Schlagen, sagte er, denn wenn man eine gewisse Grenze überschritten habe, brauche man den Kick, egal wie, den Rausch, den Blutrausch, diesen vor allem, wenn keine Drogen da seien.

Plötzlich lächelte Nathan. War er verrückt geworden? «Ich vergass total, dass ich in der Stadt den Film gewechselt habe», sagte er leise, als ob ihn jemand verstehen könnte. «Sie haben den neuen Film, aber die verbotenen Bilder sind alle auf dem alten. Und der alte ist in meiner Hosentasche.» Wir gingen ins Zimmer zurück, er schob mir die kleine Filmspule blitzschnell zu, und ich liess sie in meine Hosentasche gleiten. Meine Hände zitterten. Sla hatte den Vorgang aus den Augenwinkeln heraus mitbekommen. Ich zwinkerte ihm zu, alles okay, und man konnte förmlich sehen, wie das Leben in seinen Körper zurückströmte.

Der Hagere und seine Leute waren sichtlich enttäuscht, als die entwickelten Fotos auf dem Tisch lagen. Nicht mal eine Mauerecke eines militärischen Objekts, nur Menschen. Man untersuchte nochmals unsere Umhängetaschen, dann durften wir gehen. Kaum waren wir draussen, verwandelte sich Sla wieder in einen Hip-Hopper. Er bewegte sich in seinem schlenkernden und federnden Gang die Strasse herunter, als käme er gerade von einem Konzert von Snoop Doggy Dogg, und nichts erinnerte daran, dass dieser Mann vor wenigen Minuten noch damit hatte rechnen müssen, dass man seinen Kopf zu Brei schlägt. «Ihr Jungs wart cool», sagte er nur, «ihr wart hip.»

Zwei Wochen später schob ich in Zürich die Kassette von Präsident Does Abschlachtung in den Videorecorder. Sla hatte sie auf dem Schwarzmarkt aufgetrieben. Ich hatte das Anschauen immer wieder vertagt, nun drückte ich den Startknopf. Auf dem Bildschirm erschien die Aufzeichnung eines Baseballspieles. Man hatte mich hereingelegt. Ich war erleichtert. g

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