Die Weltwoche

01.08.2002

«Wir sitzen im Dunkeln, kämpfen und sind sündig, weil wir

nichts wissen»

Eine Reise ins untergegangene Reich der Taliban.

Von Eugen Sorg und Nathan Beck (Bilder) ·

«Zuerst ist Mullah Omar gut gewesen», meint der Wachsoldat mit der Kalaschnikow. «Aber dann hat er einen grossen Fehler gemacht.» – «Welchen?» Der 20-Jährige mit einem Gesicht, so alt, dass er sein eigner Vater sein könnte, zögert keine Sekunde. «Dass er Osama Bin Laden nicht ausgeliefert hat.» Er beschreibt mit der Mündung seiner Waffe einen Bogen. «Schau, was für ein prächtiger, ruhiger Ort. Das war sein Reich, und hier hätte er weiter leben können wie ein König. Die Amerikaner hätten ihn in Ruhe gelassen.»

Dort, wo sein Gewehrlauf hinzielt, befindet sich Mullah Omars Residenz. Der rätselhafte, einäugige Talibanherrscher hatte sie in den kurzen Jahren seiner Regentschaft aus dem steinigen Nichts errichten lassen, ein Anwesen von der stolzen Ausdehnung eines Messegeländes, mit mehreren Gästehäusern, Wohngebäuden, Stallungen und einer Privatmoschee mit farbigen Türmchen. Gegen Norden hin, gleich hinter der hohen Umfassungsmauer, erheben sich die kahlen und bizarren Gebirgsausläufer des Koh-i-Baba-Massives; in der anderen Richtung, nur einen Kilometer entfernt, liegt die südafghanische Oase Kandahar, kurzzeitige Welthauptstadt des Terrors, flirrend in Hitze und Staub und unwirklich wie eine Fata Morgana.

Muselmanischer Pol Pot

Der junge Soldat hat sich uns beim Eingang zur Anlage des Mullahs entgegengestellt. Zutritt verboten, Befehl der amerikanischen Kommandantur. Gegen ein kleines Entgelt wechselt er temporär die Seiten und amtiert nun als unser Guide. Der Ort macht einen etwas verwahrlosten Eindruck. Die US-Luftwaffe hatte letztes Jahr ein paar Löcher in die Residenz geschossen, und was der grimmige Paschtunenmullah bei seinem überstürzten Abgang Anfang Dezember nicht einpacken konnte, wurde von den nachrückenden Anti-Taliban-Milizen, den Kollegen unseres Begleiters, konfisziert, das heisst gründlich geplündert. Was übrig geblieben ist, verrät gleichwohl noch einiges über die Vorlieben des Bauherrn.

Dieser wollte eine Renaissance des Islam, eines unverdorbenen Islam, rein wie die Steinwüste Südafghanistans, wo er aufwuchs, unbarmherzig wie die Sonne, scharf wie die Klinge eines Schwerts. Seine Landsleute sollten leben wie im Arabien des sechsten Jahrhunderts, wie zu Zeiten des Propheten, als dessen Wiedergeburt er sich sah, und Kandahar sollte zum Zentrum der wahren Gläubigen werden, zum neuen Mekka, wo sich die Gelehrten der islamischen Welt träfen und wo jeder verfolgte Muslim aus der ganzen Welt Zuflucht und Schutz finden würde.

Eine unglaubliche Verkettung geschichtlicher Zufälle – Gottes Wille, ohne Zweifel – (dazu pakistanische und saudische Geheimdienste und das grosszügige Sponsoring des Glaubensbruders Osama Bin Laden) schien seine Vision Wirklichkeit werden zu lassen.

Des Mullahs Turbanarmee schwärmte aus, eine heilige Horde, die sich wundersam vermehrte, mit Schnellfeuergewehren auf zweitürigen japanischen Pick-ups (am Schluss waren über 100000 Geländewagen im Einsatz), bald beherrschte sie einen Grossteil der Steppen und Schluchten des Landes, und überall führte sie die Ordnung des rechten Glaubens ein, welche das islamisch korrekte Leben bis in die kleinsten Details regelte. Im Koran und in den Sprüchen des Propheten stand alles geschrieben. Wo trotzdem Unsicherheiten bestanden, etwa ob ertappte Homosexuelle vom höchsten Gebäude der Stadt heruntergestossen oder ob sie lebendig in einem Loch unter einer einstürzenden Mauer begraben werden sollten, so wurden diese in engagierten Disputen von den Schriftgelehrten geklärt. Letzte Entscheidungsbefugnis sowohl in militärischen wie in religiösen Fragen (es gab keine anderen) lag aber in jedem Fall bei Mullah Omar, der von Kandahar aus via Satellitentelefon sein Emirat regierte, ein muselmanischer Pol Pot im Schneidersitz, aus dem er sich nur erhob, wenn er hohen Besuch begrüsste, beten ging oder einer seiner vier Frauen beiwohnte.

Die Unantastbarkeit der Tradition, die Vergottung der Authentizität und des überlieferten Wortes durch die Taliban, welche beispielsweise zu einem Verbot des Brieftaubenzüchtens führten (der Prophet spricht an keiner Stelle davon, dass man Brieftauben züchten soll) oder zu einem Verbot der Zahnpasta (der Prophet hatte sich die Zähne mit einer Wurzel gereinigt), standen im Gegensatz zum Lifestyle des Mullah. Dies betrifft nicht so sehr dessen Eiswürfelmaschinen (konfisziert), Kühltruhen (konfisziert), die 21 schnittigen Toyotas mit den verdunkelten Scheiben (sofort konfisziert), von denen unser Wächter bewundernd berichtet. Auch nicht das Airconditioning in allen Räumen. Sicher hätte auch der Prophet eisgekühltes Pepsi dem brackigen Ziehbrunnenwasser oder einen kugelsicheren Vierradantrieb dem langsamen Kamel vorgezogen. Es ist vielmehr der Geschmack der Palasteinrichtung, welcher hart mit der Würde der geschichtlichen Mission kollidiert.

Heidilandschaft ohne Heidi

Prunkstück im Innenhof ist eine Berglandschaft aus Draht und bröckligem Zement, mit aufgepinselten Wasserfällen, stilisierten Palmen und einem liegenden Baumstrunk – eine rührende Mischung aus Art brut, Suisse Miniature und Psychiatriekunst. Die Mauerwände sind bemalt mit Bildern von Alleen, Bergseen, Heidilandschaften ohne Heidis, manchmal dramatisiert mit Jagdbombern. Der Stil ist ungelenk, kindlich, es sind ähnliche Bilder, wie man sie in pakistanischen Billigrestaurants findet oder auf den bunt bemalten Lastwagen. Über die Spanplatten der Einbauküche wurden Plastikfolien mit Marmormuster geklebt; die Schrankwand im Schlafzimmer des Mullahs ist Holzimitat, jedes der mindestens zwanzig Schranktürchen mit einem Schloss versehen (immer wenn sich der Hausherr bewegte, muss es in seinen Pluderhosen geklimpert haben); und von der Decke baumeln zwei Kronleuchter aus Kunststoff, wahrscheinlich hergestellt in Hongkong und ins Land geschmuggelt über Dubai. Alles wirkt schäbig, grossspurig, falsch. Trash. So wie sich ein Lottokönig aus der Unterschicht die feine Lebensart vorstellt.

An Kandahar scheinen die jüngsten Ereignisse – sowjetische Invasion, Bürgerkrieg, Talibanistan – spurlos (ausser einigen Häuserruinen) vorbeigegangen zu sein; sie waren eine kurze Episode in einer jahrtausendealten Geschichte von Grossreichen, Niedergang, Blütezeiten und Clankriegen. Wie zu Zeiten von König Ahmed Schah Durrani («Perle der Perlen»), dem Gründervater Afghanistans im 18. Jahrhundert, wird in den schmutzigen Gassen gehämmert und geschweisst, gekocht und gefeilscht, geschrien und gespuckt. Wie eh und je mischen sich die Gerüche von frischen Früchten und gebratenem Lammfleisch mit dem Gestank von Urin und Kot. Und kaum waren die rabiaten Mullahkraten vor sechs Monaten verjagt, zeigte die Stadt wieder die frivolen Seiten ihres mittelalterlichen Charmes.

Umringt von einer grossen Menschenmenge, führt ein Gaukler Tricks vor, treibt sich einen Draht durch die Zunge, vermehrt Geldscheine, zaubert Schlangen aus dem Ärmel, dazu schmeichelt und droht er und macht zotige Bemerkungen, und zum Schluss verkauft er (mit Erfolg) selbst gebraute Wundertinkturen gegen Schwächezustände und Krankheiten jeglicher Art. In Innenhöfen öffnen die Männer wieder Käfige, aus denen wütende kleine Vögel herausschiessen und übereinander herfallen. Wetten werden abgeschlossen, welches der beiden scharf gemachten Vögelchen zuerst dem anderen die Augen aushackt; oder welcher der zwei Hähne, versehen mit scharfen Klingen an Schnabel und Krallen, den Kampf als Sieger überlebt; oder welcher der grossen Hunde, die sich nach dem Freitagsgebet in einem grossen Flussbett ausserhalb Kandahars ineinander verbeissen, rasend von den Schlägen des Besitzers, vom Gejohle der Menschen und vom Blut des anderen Männchens.

Haschisch-umwolkte Verruchtheit

Und aus den Verkaufsbuden dröhnt wieder Musik, orientalischer Schnulzengesang, schmachtender Herzschmerz. Wie jener von Gul Mashoom («Blumensohn»), Sängerstar aus Kandahar, der in seinem aktuellen Hit die Liebe zu einem Jungen besingt. Er schwärmt von dessen Schönheit und dessen verführerischer, Haschisch-umwolkten Verruchtheit, von dessen schwarzer Stirnlocke auf der weissen Haut, und das Bild auf der Tonbandkassette, die in all den neu eröffneten Musikläden aufliegt, zeigt einen bleich geschminkten Knaben mit Rüschenhemd und Golduhr – einen Verschnitt aus Maharadscha-Sohn und Strichboy. «Es ist Brauch in Kandahar», bestätigt Latif, «dass Männer hübsche Knaben lieben.» Latif betreibt ein winziges Teehaus im Basarviertel, und während unseres Aufenthaltes schauen wir regelmässig bei ihm vorbei.

«Aber Anfang der neunziger Jahre», erzählt er, «nachdem die Kommunisten wieder weg waren, herrschte eine sehr schlimme Zeit. Die Mudschaheddin holten sich die Jungen von der Strasse, vom Markt, einfach so, wann immer ihnen einer gefiel. Jeder der Kommandanten hielt sich zwei oder drei Jungen. Sie wurden als Mädchen geschmückt und mussten vor ihrem Herrn tanzen. Viele Väter versteckten deshalb ihre halbwüchsigen Söhne unter einer Burka, wenn sie in die Stadt mussten.» Einmal seien zwei Kommandanten wegen eines Knaben in Streit geraten. Mitten in der Stadt lieferten sie sich Panzerduelle. Mullah Omar versammelte daraufhin ein paar Taliban, befreite den Jungen, brachte ihn seinem Vater zurück und tötete die Kommandanten. Dies machte die Taliban am Anfang populär, und bald hatten sie in Kandahar die Macht übernommen. «In Masar-i-Scharif», lacht Latif, «haben sie übrigens diese Sitte auch. Die Usbeken lieben ebenfalls Jungen.»

An einer belebten Kreuzung versucht ein Polizist den chaotischen Verkehr zu regeln. Er trägt eine prächtige weisse Uniform aus der Zeit des Königs, schimpft mit einem Karrenschlepper, mischt sich in den Streit zweier Busfahrer ein, von denen jeder den Vortritt für sich beansprucht, fuchtelt mit einem Stecken, bläst wie ein Verrückter in eine Trillerpfeife und wird von niemandem beachtet. Links und rechts kurven Töffs, Esel, Autos, Rikschas und Kamele ungerührt an ihm vorbei. Keiner scheint irgendwelche Regeln zu kennen, auch der tapfere Polizist nicht, der den Tatort sofort verlässt, als er uns erblickt, um unaufgefordert in seiner würdigsten Pose für ein Foto zu erstarren. Anschliessend tritt er todesmutig auf die Strasse, um uns als Geste der Gastfreundschaft und Beweis seiner Autorität auf die andere Seite zu geleiten, mit dem Resultat, dass wir alle um ein Haar platt gefahren werden. Zum Gaudi der Umstehenden.

Wie immer, wenn wir stehen bleiben, bildet sich auch hier sogleich eine Menschentraube. Westler, die zu Fuss in der Stadt unterwegs sind, hat man seit dem Putsch der Kommunisten vor 24 Jahren kaum mehr gesehen. Die Leute sind neugierig und von einer direkten und derben Fröhlichkeit, die sofort in Spott umschlagen kann, wenn man etwas falsch versteht oder wenn einem ein Missgeschick passiert. Etwas später rufen uns ein paar junge Männer zu sich. Sie wollen ebenfalls fotografiert werden. Zusammen mit einem Botenjungen, einem etwa 12-jährigen Hasara, dem sie die Hosen heruntergezerrt haben und dessen nackten Hintern sie grinsend der Kamera entgegenstrecken. Kaum lassen sie ihn wieder los, rennt der Kleine unter dem Gelächter der Zuschauer wortlos weg.

In der Öffentlichkeit sind nur ganz wenige Frauen unterwegs, und hier im Süden sind sie vollkommen verschleiert. Das Paschtunwali, der in Erzählungen und Liedern überlieferte Stammeskodex der Paschtunen, wacht über die Ehre der Frau wie über einen Staatsschatz. Ab dem siebten Lebensjahr ist dem Mädchen jeglicher Kontakt mit einer männlichen Person ausserhalb der engeren Familie verboten (und selbstverständlich umgekehrt) – bis zur Heirat, welche im Normalfall mit einem Cousin arrangiert wird. Will ein fremder Mann trotzdem ein paar Worte mit einer Frau wechseln, ohne sein und ihr Leben ernsthaft zu gefährden, muss er den Dienstweg beschreiten. In unserem Fall ist dies das Vorsprechen bei einer der vierzig Schulen Kandahars, welche vor kurzem wieder eröffnet wurden. Wir bitten den Vorstand um ein Gespräch mit Lehrerinnen, welches schliesslich genehmigt wird, und nachdem die Frauen auch die Erlaubnis ihrer Familien und Männer bekommen haben, können die Treffen stattfinden.

Unstatthafte Begegnung

Eine eigentümliche Nervosität begleitet die längeren Unterhaltungen, die wir mit je zwei Lehrerinnen in einem der kahlen Klassenzimmer der Schule führen. Noch bevor wir eingetreten sind, stellt sich ein älterer Mann vor mich hin, zeigt auf eine der Lehrerinnen und teilt mir mindestens dreimal mit, dies sei seine Frau. Es tönt nicht stolz oder freundlich, und er hat auch nicht die Absicht, sie mir vorzustellen. Es kommt mir eher vor wie eine Warnung. Danach tauchen alle drei Minuten der Schulvorsteher oder sein Stellvertreter an der offenen Türe auf. Sie hören kurz zu, machen ein ernstes Gesicht, verschwinden, kommen zurück, setzen sich auf einen Stuhl, wippen mit dem Fuss, geben Antworten anstelle der Frauen und verschwinden wieder.

Nach einer halben Stunde fragt der Vorsteher zum ersten Mal, wie lange dieses Interview noch dauern wird. Dabei klopft er auf seine Uhr. Es sind Sommerferien, es findet kein Unterricht statt, und das Argumentieren mit der Uhrzeit ist etwa so unafghanisch wie der Verzehr von Schweinefleisch. Und Habib, unser junger Übersetzer, der in Kabul englische Literatur studiert, sich selber als «modernen Afghanen» bezeichnet und einmal gestanden hat, er träume von einer Heirat mit einer Europäerin, starrt die ganze Zeit stur auf einen imaginären Punkt auf dem Boden. Er getraut sich nicht, den Damen in die Augen zu schauen. Unserer Versammlung haftet offensichtlich der Ruch des Unstatthaften, Peinlichen an.

Überhaupt nicht peinlich scheint es indes den vier Frauen zu sein. Sie warten jeweils höflich, bis der Vorsteher seinen Auftritt hinter sich gebracht hat, und fahren dann unbeeindruckt dort fort, wo sie aufgehört haben. Sie reden, lachen, sinnieren, flirten, ereifern sich mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten sie in ihrem Leben nie etwas anderes gemacht, als unverschleiert mit bartlosen Ungläubigen Konversation zu betreiben. Keine von ihnen jedoch hat je vorher mit einem Fremden gesprochen, und eine, Jamilla, eine unverheiratete, schöne Dreissigjährige, hat sogar während zehn Jahren das Haus kein einziges Mal verlassen. Zuerst war es zu gefährlich wegen der marodierenden Mudschaheddin, ab 1994 war es verboten durch die Taliban. Die Lehrerinnen unterrichten erste Klassen, die Zimmer haben weder Stühle noch Bänke, sind aber trotzdem voll, der Andrang ist gross, durchschnittlich 58 Mädchen sitzen am Boden, zwischen sechs und fünfzehn Jahre alt, die älteren meistens schon verlobt. Die Taliban hatten als Erstes alle Mädchenschulen geschlossen und die Knabenschulen in Madrasas, in Koranschulen, umgewandelt. Zarghona, eine andere der vier Lehrerinnen, resümiert das herrschende pädagogische Prinzip: «Es ist einfach, Schule zu geben», lacht sie. «Die Mädchen wollen lernen, und wir unterrichten. Und am Abend sind wir heiser.»

Die 35-jährige Zarghona war im Januar nach dem Sturz der Taliban vom Exil in Pakistan nach Kandahar zurückgekehrt. Am Radio hörte sie, genau wie ihre Kolleginnen, dass Lehrkräfte gesucht werden, Männer und Frauen. Zwei Tage später stand sie in ihrer alten Schule. Und am nächsten Tag fing sie mit der Arbeit an. Die Brüder hatten die Erlaubnis gegeben. Nicht nur wegen der fünfzig Dollar Monatslohn. Schon ihr Vater war für den Fortschritt, wie sie es ausdrückt. Er war ein hoher Staatsbeamter, schickte alle Kinder zur Schule, auch Zarghona, und für sie wählte er später auch einen Ehemann aus, der seiner Frau nicht verbot, ausser Haus arbeiten zu gehen.

Auf der Flucht

Anfang der achtziger Jahre hatten die Mudschaheddin vor Zarghonas Augen einen ihrer Lehrer getötet. Er sei Kommunist. Kurz darauf brennen sie ihre Mädchenschule nieder. Zarghona wird vorübergehend nach Kabul geschickt, um die Schule zu beenden. Ende der achtziger Jahre wird der Vater von den Mudschaheddin getötet, im eigenen Haus, vor den Augen Zarghonas. Er sei Kommunist. Vier Jahre später ist sie erneut in Kabul, diesmal auf der Flucht vor den Taliban. In Kabul ist Bürgerkrieg, aber sie kann als Lehrerin arbeiten und ihr Mann als Kommandant bei Massuds Truppen.

Ein Jahr danach poltert es an der Tür. Ein Trupp feindlicher Mudschaheddin will Zarghonas Mann mitnehmen. Sie stellt sich in den Weg. Die Männer lachen und erschiessen den vierjährigen Sohn, der sich an die Hand der Mutter klammert. Die Familie flüchtet nach Masar-i-Scharif im Norden. Sie leben in einem Zelt, und als der Mann, der mittlerweile als Fahrer arbeitet, 1998 von den Taliban auf offener Strasse erschossen wird und sie im Auto des Bruders erneut flüchtet, durch ein winterliches, verwüstetes Land, fühlt sie längst keinen Schmerz und keine Angst mehr. Sie ist wie narkotisiert. Es hätte ihr nichts ausgemacht zu sterben, aber sie hat kein Recht dazu. Sie muss ihre drei verbliebenen Kinder in Sicherheit bringen.

Zarghonas Kolleginnen haben ähnliche Geschichten zu erzählen. Wie die meisten in diesem Land. Über anderthalb Millionen Menschen sind im beinahe ein Vierteljahrhundert wütenden Bürgerkrieg getötet worden, jeder zehnte Einwohner schätzungsweise. Umso erstaunlicher muten die Kraft, die Energie und die offensichtliche Freude an, welche die Lehrerinnen ausstrahlen. Als ob ihnen mit der Möglichkeit des Unterrichtens nochmals ein Leben geschenkt worden wäre. Wenn sie von Bildung reden, schwingt ein ungekünsteltes Pathos mit. Lernen, diese kleinen Zeichen und Figuren zu entziffern, lernen, zu lesen, zu schreiben und zu rechnen, dies ist eine gewaltige Sache. Es wird neue Horizonte auftun, Freiheit bringen, eine ganze Welt umkrempeln. Vor allem für Frauen. Davon sind sie überzeugt. Und es ist die einzige Chance für das Land. Sie habe gehört, sagt Jamilla, dass sie draussen in der Welt auf den Mond fliegen und nach Sternen suchen. «Und wir hier sitzen im Dunkeln und kämpfen und sind sündig, weil wir nichts wissen.»

Der Kampf

Wir erzählen dem Teehausbesitzer Latif von unseren Begegnungen. Er würde seine Frau nicht mit Fremden sprechen lassen, meint er nur. Nicht wegen sich, aber wegen dem Gerede der Verwandten und der Nachbarn. Vor fünf Monaten ist Latif aus dem pakistanischen Exil in seine Heimatstadt Kandahar zurückgekehrt. Als Vorhut seiner Familie sozusagen. Wenn es sich herausstellt, dass die neue Regierung gut ist, sagt er, wird er seine Leute nachkommen lassen. Er hat neben seiner Frau noch 4 Kinder und 23 Geschwister. Ein Umzug ist teuer und aufwendig wie eine Truppenverschiebung. Eigentlich wären es 40 Geschwister, aber 17 sind gestorben. Er lacht. Der Vater hatte zwei Frauen, eine aus Kandahar mit schwarzen und eine aus Belutschistan mit blauen Augen. Latif hat blaue Augen.

Er will keine zweite Frau. Sicher nicht in der nächsten Zeit. Seine jetzige Frau ist häufig krank, erzählt er, sie hat Schmerzen im Kopf, im Bauch, überall, und die Medikamente kosten Unmengen Geld. Er hat den Doktor gefragt, was ihr fehlt, aber der weiss es auch nicht genau. Sie denkt zu viel, vermutet Latif, sie hat Angst, dass er eine zweite Frau will. Und er sagt ihr immer wieder, er wolle keine zweite, er habe schon eine. Aber sie glaubt ihm einfach nicht. «Was soll ich machen?» Er macht ein kummervolles Gesicht. «Dir würde ich auch nichts glauben», zieht ihn der Kollege vom Schuhgeschäft gegenüber auf, und beide müssen lachen.

«Wir alle haben die Taliban gehasst», sagt Latif ein anderes Mal, und zwischen den Brauen seines fein und scharf geschnittenen Gesichts bildet sich eine böse kleine Falte. «Alles war verboten, alles, und in Kandahar waren sie besonders streng, hier war ihre Hauptstadt.» Aber es gab keine Verbrechen, meint er nach einer Weile, und jetzt beginne das wieder. Einbrüche, Raub am helllichten Tag. «Die Regierung muss die Leute entwaffnen», wirft der Schuhhändler ein, «jeder hat ein Gewehr zu Hause.» – «Die Afghanen lieben es zu kämpfen», bestätigt Latif, «sie töten, ohne zu überlegen, und so haben sie das ganze Land ruiniert.» – «Und wer sind die besten Kämpfer?», will ich wissen.

«Die Paschtunen sind die besten Kämpfer», antwortet der Schuhhändler sofort, und Latif nickt lächelnd, «glaube mir, wir sind die tapfersten.» – «Die Tadschiken behaupten dasselbe von sich», stichle ich, «und sie hatten einen so berühmten Anführer wie Massud.»

«Massud war gut», sagt der Schuhhändler, «aber nichts im Vergleich mit uns Paschtunen. Hör zu, ich erzähle dir eine Geschichte. Es war Krieg gegen die Russen, und 150 Tadschiken kamen nach Kandahar, um uns zu helfen. Wir sagten, sehr schön, auf übernächste Nacht haben wir einen Überfall geplant, alles ist vorbereitet, wir zählen auf euch.»

«Als es so weit war und sie sich versammelten, sagten wir ihnen: Ihr seid unsere Gäste, ihr müsst nicht kämpfen, setzt euch dort hinauf und schaut uns zu. Sie taten, was wir ihnen sagten, nahmen ihre Plätze ein, und wir zogen los. Wir kämpften hart die halbe Nacht, und nach vier Stunden kamen wir zurück. Wir hatten viele Russen getötet, und wir hatten gesiegt. Also, fragten wir die Tadschiken, was sagt ihr jetzt. Nun, meinten sie, wir geben es zu, ihr seid stark, und wir werden uns nicht mehr mit euch messen.» – «Siehst du», sagt Latif und grinst mir zu. «Und was wird aus Afghanistan?», frage ich. «Jetzt ist es gut», sagt der Schuhhändler, «jetzt ist Friede.» – «Ja», meint Latif, «und die Amerikaner sollen noch etwas hierbleiben. Sonst geht der Krieg wieder los.»

Amulette gegen Geister

Am nächsten Tag fahren wir nach Helmand, in die Nachbarprovinz von Kandahar. Habib, unser schüchterner Übersetzer stammt aus Helmand, und wir besuchen seine Familie. Helmand ist auch die Opiumkammer Afghanistans. Zwei Drittel der Landesernte Mohn wird dort eingefahren, nicht zuletzt dank eines Staudamms, den die Amerikaner in den fünfziger Jahren im Norden der Provinz gebaut hatten. Im Hauptort Laschkargah holt uns ein Verwandter Habibs ab, Onkel Mohammad, und transportiert uns in einem Geländewagen nach Nadali, einem Dorf in der Wüste, wo sein Haus steht. Onkel Mohammad ist gut gelaunt. Im Wahnsinnstempo brettert er über die Schlaglöcher und Buckel und hüllt die Kamele und Beduinenzelte am Pistenrand in Staubwolken.

Der zirka Vierzigjährige hat viele Gründe, mit sich und der Welt im Frieden zu sein. Als Sayed, als Abkömmling des Propheten, gehört er zur religiösen Nobilität, und dies wiederum ist für die weltlichen Geschäfte von Vorteil. Er handelt erfolgreich mit Autos und besitzt im Hauptort ein grosses Lager an Wagen und Ersatzteilen. Gleichzeitig betreibt er ein kleines Hospital, wo er auch als Arzt tätig ist. Er hat zwar noch nie im Leben eine einzige Medizinvorlesung gehört, dafür gehört ihm die angegliederte Apotheke, wo die Patienten die Medikamente kaufen, die er ihnen verschrieben hat. Er verkauft auch selbst fabrizierte Amulette gegen Dschinns, Geister, und gegen den bösen Blick, vor allem in seinem Dorf, wo er ausserdem als Richter und Schlichter amtiert. Weiter ist er Berater der neuen Regierung (er war auch Berater der Taliban), und schliesslich besitzt seine Familie grössere Ländereien, die sie von Bauern bewirtschaften lässt.

Opium pflanzt er keines an, behauptet Onkel Mohammad, Opium ist unislamisch und gibt ungesunde Dämpfe ab. Aber er bringt uns zu einem Nachbarn, dem Bauern Haji Sadiq, einem liebenswürdigen Alten mit dem Lachen eines leicht Verrückten. Dieser pflanzt Mais, Getreide, Gemüse, Obst und Mohn. Vor wenigen Wochen war Mohnernte, die getrockneten Kapseln mit den Einritzungen liegen auf Haufen gesammelt noch im Hof. Für ein Kilo Weizen bekommt der Bauer 50 Cent, für ein Kilo Opium bezahlen die Händler auf dem Basar 320 Dollar. Haji Sadiq hat fünfzig Kilo geerntet. Er ist nicht unzufrieden.

Letztes Jahr dagegen war es schlimm. «Mullah Omar und Osama», erzählt er, «hatten im Vorjahr die ganze Opiumernte aufgekauft, diese eingelagert, dann die Mohnfelder vernichten lassen und den grossen Profit gemacht, als die Preise wegen der künstlichen Verknappung in die Höhe stiegen. Die Bauern dagegen brauchten ihre Ersparnisse auf, mussten Schulden machen, etliche verloren den Hof, viele junge Männer konnten nicht heiraten.» Haji Sadiq muss eine 29-köpfige Familie ernähren. «Ohne das Opium», sagte er beim Abschied, «müssten wir betteln gehen.»

Hinter den hohen Lehmmauern des Familiensitzes von Onkel Mohammad verbirgt sich ein kleines Eden. Schattige Baumalleen, Obstgärten, Blumenbeete, Brunnen, Rosenstöcke, Weingirlanden, ein eigener Planet aus Farben und Düften. Auf den Kissen und Teppichen der Gartenterrasse nimmt man Platz, Bedienstete servieren Tee und Fruchtsäfte, und immer mehr Männer setzen sich dazu, Verwandte und Freunde. Am Abend, als die riesigen Schüsseln mit Reis und Fleisch und Gemüse aufgetragen werden, sitzen mindestens zwanzig Leute im Kreis. Vier oder fünf davon sind Brüder von Onkel Mohammad. Sie sehen gleich aus wie er: Garibaldiköpfe mit Rauschebart, pfiffige Äuglein und gigantischer Leibesumfang. Vor einigen Tagen haben in Kabul die eineinhalbtausend Notabeln der Loja Dschirga, der nationalen Ratsversammlung, eine Regierung gewählt.

Loja Dschirga? Für Onkel Mohammad und seine Brüder und alle anderen hier ist die Sache erledigt. Sie ist gescheitert. Warum? Die Amerikaner haben sich eingemischt. Die Nordallianz besetzt alle Posten. Was immer die Regierung beschliesst, hier wird es keine Gültigkeit haben. «Und wenn sie uns trotzdem etwas vorschreiben sollte», sagt der Onkel, «dann werden wir alle reagieren. Einstimmig. Mit allen Mitteln.» – «Auch mit Gewalt?» – «Mit allen Mitteln.» Die anderen nicken beifällig.

Die Loyalität der meisten Afghanen gilt bis heute ihrem Clan oder Stamm und dessen Ehrenkodex. Es gibt keinen Patriotismus und keine Verfassungstreue wie in den westlichen Gesellschaften. Der Staat blieb seit 250 Jahren, abgesehen von einer kurzen Unterbrechung, im Wesentlichen eine Angelegenheit von zwei Clans der Durrani, einer Stammesdynastie aus dem paschtunischen Süden. Kabul sicherte sich eine wenigstens oberflächliche Loyalität der anderen Stämme und Sippen entweder durch brutalste Gewalt (König Abdurrahman Durrani versklavte vor 100 Jahren u.a. das autonome Volk der Hasara) oder (erfolgreicher) durch das Verteilen von Ämtern, Ehrentiteln und materiellen Geschenken (Gold, Land, Zollprivilegien u. Ä.). Die notwendigen Mittel besorgten sich die Herrscher lange Zeit mit Kriegszügen. Dynastiegründer Ahmed Schah Durrani fiel in den 25 Jahren seiner Regentschaft neunmal in Indien ein, um in grossem Stil zu plündern.

Der beschränkte Talib

In den letzten fünfzig Jahren ist anstelle der Beutezüge die freiwillige Unterstützung durch die Staaten und Hilfswerke des Westens, inklusive der ehemaligen Sowjetunion, getreten. Durch eine geschickte Politik liessen sich König Sahir Schah und seine Nachfolger die gesamte Infrastruktur des modernen Afghanistan vom Ausland finanzieren. Die russische Invasion Ende der Siebziger und der Bürgerkrieg brachen die Herrschaftstradition der Durrani auf. Momentan besetzen die siegreichen Tadschiken der Nordallianz die lukrativen Positionen des Staates. Onkel Mohammad und seine paschtunischen Freunde sind verstimmt. Für sie hat in Kabul ein fremder Stamm die Macht gestohlen. Sie können von ihm keine Privilegien mehr erwarten, und sie sind ihm keinerlei Gehorsam schuldig. «Diese Regierung ist für uns nicht gültig», wiederholt der Onkel, obwohl er gleichzeitig deren Vertreter in Helmand berät.

In der Runde auf der Terrasse sitzt auch ein junger Mann mit schwarzem Turban, der die ganze Zeit schweigt und uns mit ernstem, unbeweglichem Gesicht anstarrt. Es stellt sich heraus, dass er ein weiterer Bruder Mohammads und ein ehemaliger Talib ist. Er wurde im letzten November in der Nähe von Masar-i-Scharif von Nordallianzsoldaten gefangen genommen, konnte sich aber einen Monat später wieder freikaufen. Ein Gespräch mit ihm erweist sich als schwierig. Seine Rede ist von einer derart ergreifenden Beschränktheit, dass es sogar dem höflichen Übersetzer Habib peinlich für seinen Verwandten wird. «Er ist ungebildet», sagt er, mehrmals verlegen lächelnd, hoffend, dass ich keine weiteren Fragen mehr stelle.

Warum töten die muslimischen Taliban andere Muslime? Warum schicken alle Muslime der Welt ihre Töchter zur Schule – ausser die Taliban? Warum schnitt man Frauen, die Fingernagellack trugen, als Strafe den Finger ab? Warum soll ein Muslim ohne Pluderhosen und ohne Bart kein guter Muslim sein? Die Antwort des Talib ist immer dieselbe. «Hasrat Mohammad sallallahu aliwasallam», beginnt er mit Grabesstimme, Prophet Mohammed, Friede sei mit ihm, und dann folgt ein Zitat des Propheten oder eine Aussage der Art, dieser habe sich auch nie rasiert. Er erinnert an einen Sprechapparat mit limitiertem Programm, an einen Gag aus einer Fernsehshow.

Als ich es immer noch nicht lassen kann und ihn frage, wer in Afghanistan die Strassen, Spitäler, Schulen, Fabriken, Häuser, Wasser- und Stromleitungen wieder aufbauen soll, nachdem die Taliban in all den Jahren ausser Moscheen nichts zustande gebracht hätten, verblüfft mich seine Replik. «Die Ausländer», sagt er schlicht. «Und warum sollen sie das tun?» – «Weil sie gute Menschen sind.» Obwohl er im Halbdunkeln sitzt, glaube ich auf seinem Gesicht ein leichtes Grinsen zu bemerken, seine erste Gesichtsregung an diesem Abend. Fünf Minuten später lächelt er ein zweites Mal.

Wir haben erzählt, dass wir morgen auf den Opiummarkt gehen wollen, und er macht auf Paschtu eine Bemerkung dazu. Habib übersetzt sie erst, als ich ihn dazu dränge. «Er hat gesagt, man wird euch dort ein Messer zwischen die Rippen stossen.» Am nächsten Morgen erklärt der Onkel, er könne uns nicht länger als seine Gäste beherbergen. Es tue ihm sehr Leid, aber er könne nicht für unsere Sicherheit garantieren.

Auf dem Weg zurück in den Provinzhauptort Laschkargah hält er in seinem Dorf nochmals kurz an. Um einen von Trümmern übersäten Platz herum stehen die Überreste einer Moschee, einer Schule und von drei Wohnhäusern. In der Mitte des Platzes klafft ein Krater, der von einer riesigen Bombe gebohrt wurde, die aber nicht explodiert ist, sondern in sechs Meter Tiefe schlummert. «Das waren die Amerikaner», sagt der Onkel, «aber es gab bis heute keine Entschädigung. Nicht einmal eine Entschuldigung für die getöteten Zivilisten. Die Stimmung der Leute hier ist nicht gut.»

In Laschkargah steigen wir aus und gehen ein Stück zu Fuss. Wir blicken in lauter düstere, verschlossene Gesichter, an denen jedes Lächeln abprallt. Gesichter wie dasjenige des jungen Talib. Habib grüsst nach rechts und nach links, es wird knapp zurückgegrüsst, einige bleiben kurz stehen und wechseln ein paar Worte. Er wirkt nicht entspannt. Später wird er zugeben, was sie ihm gesagt haben. «Was für eine Schande. Wie kannst du so etwas tun. Du stammst aus einer guten Muslimfamilie, dein Grossvater ist ein Mullah, und du gehst mit Amerikanern spazieren.»

Als wir in die kleine Gasse mit den Opiumläden einbiegen, hat sich hinter uns bereits ein Menschenauflauf gebildet. Plötzlich sind wir umringt von Männern. Tapfer stapft Habib durch die Menge hindurch, und wir hinter ihm her, bis wir nach wenigen Metern vor einer der Buden stehen. Am Boden sitzt der Händler, vor sich den Blechkoffer, in diesem das Opium, verpackt in Dreikiloportionen. «Das sind zwei Schweizer Journalisten», sagt er, «die würden gerne ein paar Fotos machen und Fragen stellen.» Der Händler schaut grimmig und sagt kein Wort. Dasselbe Resultat beim Nachbarsgeschäft.

Inzwischen sind noch mehr Leute dazugekommen, die Opiumgasse ist verstopft, wir sind von allen Seiten von einer Menschenwand eingeschlossen, die immer näher rückt. Die Gesichter sind ganz finster. Manchmal fällt jetzt ein Spruch oder zwei, drei schnelle Sätze, worauf einige der dunklen, verbrannten Köpfe einen kurzen, ungemütlichen Lacher von sich geben. Sonst ist es völlig still. Zwei der Rufe kenne ich: «America!» und «bura, bura!» (oder so ähnlich), man verwendet letzteren, wenn man Kinder oder Hunde verjagt. Was sonst noch gesagt wird, erfahren wir nie. Habib wird auch in den folgenden Tagen eine Übersetzung verweigern, trotz Bitten und Drohungen. «Ich kann es nicht sagen», wird er uns anflehen, «es würde euch traurig machen.»

Messer in der Faust

«Lasst uns umkehren», zischt mir Nathan, der Fotograf, zu und versucht dabei so locker wie möglich zu wirken. Habib, der daneben steht, nickt. Er ist bleich. Wir beginnen mit dem Rückzug, schlendernd, spazierend, mit dem verständnisvollen Lächeln des Ethnotouristen, und wir alle wissen eines: Losrennen wäre das Falscheste. Es wäre das Signal, um uns in Stücke zu reissen. Die Menge bewegt sich ebenfalls in unserer Richtung, einzelne schubsen sich gegenseitig, mir fällt ein jüngerer Bursche auf, der aufsässig nahe bei Nathan geht, quasi in Körperkontakt, ihn ständig angrinst, und als sich sein langes Hemd für einen Moment verschiebt, sehe ich – oder bilde ich es mir nur ein? Nein, ich bin mir sicher, es gesehen zu haben -, dass er mit der Faust den Griff eines Messers umklammert.

Genau in diesem Moment tauchen die ersten Soldaten auf. Zuerst drei, dann vier, dann zehn oder mehr, plötzlich sind sie da, aus dem Nichts, wir haben keine Ahnung, wer sie gerufen hat. Sie dreschen mit Gummischläuchen und Gewehrkolben auf die Leute ein, mit voller Wucht, flop, flop, sie stossen dazu kurze Befehle oder Verwünschungen aus, die Menge weicht zurück, formiert sich neu, wird erneut vertrieben, wie ein Fliegenschwarm, der aufstiebt und sich an einem anderen Ort wieder setzt. Uns verschafft es Luft, und irgendwann – nach fünf Minuten, nach einer Stunde? – kommen wir beim Gouverneurspalast an, eskortiert von den Soldaten, wo uns der Vizegouverneur in seinem Büro willkommen heisst. Es habe, sei ihm gesagt worden, ein kleines Sicherheitsproblem gegeben. Doch das sei nun gelöst, und er bietet uns an, in der Militärkaserne zu übernachten, bevor wir am anderen Tag nach Kandahar zurückkehrten. Wir nehmen dankend an.

Irgendwo im Ödland zwischen Mullah Omars Palast und dem Stadtrand von Kandahar erstreckt sich der Friedhof, ein gewaltiges Totenreich an der Grenze zum Nirgendwo. Die unzähligen Steinhaufen mit den im Winde tanzenden weissen, grünen und roten Wimpeln und Fähnchen liegen da wie eine riesige, in der Wüste gestrandete Geisterarmee. Die einzigen Lebewesen sind zwei ausgemergelte streunende Hunde und zwei bewaffnete Männer bei einer Gruppe neuerer und gepflegter Gräber am Rande des Friedhofs.

Die Männer sind Soldaten von Warlord Gul Agha, dem jetzigen Kommandanten von Kandahar, Sieger über die Taliban und Schirmherrn über die Hundekämpfe. In den neueren Gräbern (es sind zwei Reihen mit je acht Grabstätten) sind Ausländer beerdigt worden, Araber und deren Frauen, Kämpfer der von Osama Bin Laden finanzierten Freiwilligenbrigade 055. «Es sind Märtyrer», sagt der eine Soldat, «gestorben im Kampf gegen die Ungläubigen. Sie lagen verletzt im Spital, und als sie sich nicht ergaben, wurden sie mit Raketen getötet.» Die Soldaten sind von der neuen Regierung hergeschickt worden, um die Leute zu vertreiben. Die Gräber hatten sich zu einem Wallfahrtsort entwickelt. Immer mehr waren gekommen, Hunderte, um am Grab zu beten, viele gar von anderen Provinzen. Sie blieben über Nacht, ein improvisierter Hotelbetrieb wurde eingerichtet, Tee und Essen verkauft.

Die Pilger waren vor allem Frauen. Sie kamen, um ihre Leiden und die ihrer Kinder zu kurieren, Unfruchtbarkeit, Geschwüre, schlechte Gedanken, Ausschläge, Unglück. Den gefallenen Arabern wird eine besondere Heilkraft zugesprochen. Während wir sprechen, nähern sich immer wieder Frauen in Burkas den Gräbern. Auf einen kurzen Befehl der Soldaten machen sie kehrt und verschwinden sofort wieder. Manchmal sagen die Soldaten auch nichts, worauf die Frauen vor den kleinen Hügeln niederknien, einen Stein vom Grab nehmen und ihn unter dem Umhang über den Arm reiben, murmelnd, sanft, auf und ab.

Ein Mann, der mit einem Fahrrad und einem Huhn auf dem Gepäckträger über den Friedhof pedalt, hält bei uns kurz an, gibt einen Kommentar und fährt weiter. «Was hat er gesagt, Habib?» – «Ach nichts, these people are uneducated, diese Leute haben keine Bildung», antwortet er, und es scheint ihm wieder einmal peinlich zu sein, «er hat gefragt, warum diese Frauen bei den Arabern beten müssen. Wir Afghanen haben doch auch Märtyrer.»

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