Die Weltwoche

20.02.2020

Eine Frage der Moral

Im Herzen der Hölle

Von Eugen Sorg

Das Böse ist ein Meister der Tarnung. Es kann jede Gestalt annehmen. Und am gefährlichsten ist es, wenn man seine Existenz verneint.

Am 27. Januar 1945, vor 75 Jahren, befreiten Stalins Truppen das Vernichtungslager Auschwitz von seinen deutschen Betreibern. Über eine Million Menschen hatten diese innert vier Jahren dort umgebracht, Männer, Frauen, Kinder, in ihrer Mehrzahl Juden. Auschwitz war das effizienteste aller Todeslager und steht als Chiffre für den ungeheuerlichen Versuch der Nazis, die «jüdische Rasse» auszurotten. Seit die Vereinten Nationen den 27. Januar zum Internationalen Holocaust-Gedenktag erklärt haben, wird dieser weltweit begangen. Ziel der Einrichtung ist es, die Erinnerung an das Böse lebendig zu erhalten. Wozu? «Jede Generation», erklärte Uno-Generalsekretär Kofi Annan vor fünfzehn Jahren, «muss wachsam sein, um sicherzugehen, dass sich solche Ereignisse nicht erneut abspielen.»

Abgesehen davon, dass Annans Mahnung wieder zu spät kam – mindestens drei weitere Völkermorde hatten seit dem Holocaust stattgefunden: in Kambodscha, Ruanda, Darfur –, kann man sich auch die Frage stellen, wie sehr eine institutionalisierte Gedenktagkultur dem Erinnern wirklich hilft. Die feierlichen Kranzniederlegungen, die schwere klassische Musik, die professionellen Betroffenheitsgesichter der anwesenden Polit- und Religions-Nomenklatura, die formelhafte Beschwörung der «unauslöschlichen Schande», des «unermesslichen Leids», des «Nie wieder» – all dies kann den Eindruck eines abgehobenen, verselbständigten Rituals vermitteln, das vielleicht Respekt, Ehrfurcht oder diffuse Schuldgefühle weckt, ohne jedoch persönlich zu berühren oder gar einen Denkprozess auszulösen. Und dies geschieht umso häufiger, je weiter zurück das schreckliche Ereignis liegt. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass ein Viertel aller Franzosen unter 38 Jahren noch nie vom Holocaust gehört haben will. Und in den anderen europäischen Ländern ist die Situation ähnlich.

Die Gedenkveranstaltungen zu Auschwitz sind bedeutungsschwanger und überwiegend abstrakt. Damit aber eine historische, fremde Erinnerung Teil des eigenen Gedächtnisses, des eigenen Inneren wird, muss sie konkret sein, fühlbar, hörbar, sichtbar, konkret wie das Unheil selbst. Die Erinnerung muss weh tun, sonst geht sie verloren. Sie muss schmerzen und aufwühlen wie zum Beispiel die Aufzeichnungen des polnischen Juden Salmen Gradowski, der im Dezember 1942 zusammen mit einem Teil seiner Familie in Viehwaggons nach Auschwitz transportiert worden war. Während seine Angehörigen direkt nach der Ankunft im Lager umgebracht wurden, teilte man den dreissigjährigen Kaufmann dem aus jüdischen Häftlingen bestehenden «Sonderkommando» zu. Ihre Aufgabe war es, die Opfer in einen Auskleideraum und dann in die Gaskammern zu geleiten. Nach der Vergasung mussten sie die Kammern leeren und säubern und alles Verwertbare von den toten Körpern behändigen: das Haar der Frauen, Goldzähne, Prothesen, um danach die Leichen im Krematorium zu verbrennen und die Asche in Gruben oder im Fluss zu entsorgen.

Gradowski lebte im «Herzen der Hölle», und ihm war klar, was ihn erwartete. Als Mitglied des Sonderkommandos hatte er Zugang zur Intimzone der Mordmaschinerie, er war einer der wenigen unmittelbaren Zeugen der planvollen Auslöschung des jüdischen Volkes, jenes unfassbar monströsen Projekts, das die Nazis unter grösster Geheimhaltung betrieben. Er war ein Toter auf Abruf.

In dieser Lage, am «Rande des Grabes» begann er zu schreiben, nachts, in seiner Muttersprache Jiddisch, in «Gefahr und Erregung», und steckte die Manuskripte in blecherne Feldflaschen, die er in der Nähe der Krematoriums vergrub, wo sie nach dem Krieg teilweise wieder gefunden wurden. Gradowski, der vier Monate vor der Befreiung bei einem Aufstandsversuch getötet worden war, hatte für die ahnungslosen Menschen in der «freien Welt» ein Zeugnis ablegen wollen und dabei ein erschütterndes und einzigartiges literarisches Werk, eine Tragödie ohne Katharsis geschaffen.

Aktive Gedenkkultur

Er führt den fiktiven Leser durch alle Kreise des Grauens, ein «Dante der Shoah», vom Viehwaggon zur Selektionsrampe, vom Appellplatz über die Gaskammer bis zum Verbrennungsofen. Er berichtet von der Verzweiflung und Erniedrigung, analysiert das «Opium der Hoffnung», begehrt auf gegen Gott, der sein Volk verlassen habe, nährt sich an der Vorstellung von Rache, und manchmal konzentriert er seinen Blick auf die konkreten Details des Schreckens, präzis und unbarmherzig wie eine hochauflösende Kamera. «Dann wird das Höllenmaul aufgemacht und das Brett [mit den vergasten Kindern und Erwachsenen] in den Ofen geschoben. […] Die Haut läuft blasig auf und platzt in Sekundenschnelle. Die Hände und Füsse bewegen sich – da ziehen sich jetzt die Adern zusammen und bewegen die Glieder. Der ganze Körper flackert schon stark, die Haut ist geplatzt, das Fett läuft aus und du hörst das Zischen im brennenden Feuer. [ . . .] Gleich platzt der Bauch. Die Eingeweide und Gedärme treten aus und in Minuten ist nichts mehr von ihnen da. Am längsten brennt noch der Kopf.»

Könnte ohne aktive Gedenkkultur, wie Annan anmahnte, Auschwitz erneut möglich werden? Nicht in Deutschland. Das Land war nach dem verlorenen Krieg gezwungen worden, seine ewige Schande anzuerkennen, und musste sich neu erfinden. Und zudem wiederholt sich die Geschichte nicht. Wozu also die unerträgliche Erinnerung an Auschwitz aufrechterhalten? Erstens aus Respekt vor den sechs Millionen unschuldig Ermordeten. Und zweitens als Hinweis auf die dunkle Fähigkeit des Menschen, anderen Menschen die Hölle anzutun. Das Böse ist ein Meister der Tarnung. Es kann jede Gestalt annehmen. Und am gefährlichsten ist es, wenn man seine Existenz verneint.

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