Die Weltwoche

19.03.2020

Eine Frage der Moral

«Massives Naziproblem»

Von Eugen Sorg

Aus den halluzinatorischen Sinn-Trümmern des Hanau-Attentäters abzuleiten, er habe aus «rechtsradikalen Motiven» gehandelt, zeugt von einem hysterischen Anti-Rassismus.

Vor etwas mehr als drei Wochen raste ein silberner Mercedes im hessischen Städtchen Volkmarsen in die Zuschauer des traditionellen Karnevalsumzuges am Rosenmontag. Körper flogen durch die Luft, Menschen schrien vor Entsetzen, und als die Fahrt des Mercedes schliesslich in einer Mülltonne endete, lagen und sassen über 120 Verletzte in der Gegend herum, unter ihnen zwei Dutzend Kinder. Es grenzte an ein Wunder, dass niemand ums Leben gekommen war. Der Fahrer, dank Airbag unversehrt geblieben, wurde von wütenden Zeugen des Gemetzels aus dem Wagen gezerrt und halb totgeschlagen.

Die Staatsanwaltschaft informierte, dass es sich bei diesem um einen ortsansässigen Deutschen handle, Maurice Pahler, 29-jährig, arbeitslos, zur Tatzeit nüchtern, wahrscheinlich ein Amoktäter ohne extremistischen Hintergrund, wobei man Tage später einräumte, über die genaue Motivlage immer noch im Unklaren zu sein. Nach kurzer Zeit war die Amokfahrt kein Thema mehr. Die sonst so meinungs- und haltungsfreudigen deutschen Medien verspürten keinerlei Neigung, sich auf die «schwierige Motivsuche» einzulassen. Kein Nachdenken über das Phänomen des Amoks, über den Täter Pahler, ein Sonderling, der eine unauffällige Existenz führte, bis er sich plötzlich entschied, mit seinem Wagen in eine fröhliche Menschenmenge hineinzurasen. Die Geschichte passte nicht in das Weltbild des linksliberalen Kommentariats. Sie hatte die falschen Opfer (Deutsche), den falschen Täter (kein Rechtsradikaler), die falsche Tatwaffe (erinnerte an die verleugnete radikalislamische Bedrohung).

Die scheinbar richtige Geschichte mit den richtigen Protagonisten hatte sich nur fünf Tage zuvor in Hanau, ebenfalls in Hessen, zugetragen. Der 43-jährige Bankkaufmann Tobias Rathjen war am Abend des 19. Februar durch die Innenstadt gezogen und hatte neun Menschen kaltblütig erschossen. Seine Opfer wählte er zufällig aus, doch etwas hatten alle gemeinsam: einen Migrationshintergrund. Danach fuhr er in die Wohnung seiner Eltern und erschoss seine 72-jährige deutsche Mutter und sich selbst.

In diesem Fall liessen die Reaktionen jede Zurückhaltung und jedes Abwägen vermissen. Schon kurz nach den Schreckenstaten glaubte der oberste Ankläger der Republik, Generalbundesanwalt Peter Frank, sicher zu wissen, dass Täter Rathjen eine «zutiefst rassistische Gesinnung» habe, aus der heraus er handelte – ein Urteil, das von den meisten Politikern und von allen Leitmedien geteilt und wiederholt wurde. «Hanau zeigt», hyperventilierte der Spiegel stellvertretend für die Meinungsbranche, «Deutschland hat ein massives Naziproblem.» Und das Magazin kennt auch die Schuldigen: «Dass rassistische und völkische Gedanken wieder salonfähig wurden, dafür hat die AfD gesorgt.»

Als Beweis für das rassistische Motiv hinter den Hanauer Morden zitierte man aus einer Art Manifest, das Rathjen hinterlassen hatte. Dort erklärt er an einer Stelle unvermittelt, dass in Deutschland das «Beste und Schönste entsteht und herauswächst, was diese Welt zu bieten hat». Und an anderer Stelle ordnet er mit dem Gestus eines Führerbefehls an, «dass folgende Völker komplett vernichtet werden müssen», und zählt 24 Länder auf, die meisten muslimisch, aber auch Israel und das buddhistische Indochina. Ansonsten fabuliert er von einer weltüberwachenden amerikanischen Geheimorganisation, die unterirdische Basen unterhalte, wo der Teufel angebetet und «kleine Kinder in unglaublicher Menge» missbraucht, gefoltert und getötet würden. Diese Organisation könne Gedanken lesen und sich «in das Gehirn anderer Menschen einklinken». Dies habe er als Einziger schon früh aufgedeckt. So sei der Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001 seine Idee gewesen, die, als er sie in seiner Wohnung geäussert habe, von der Organisation mitgehört, übernommen und schliesslich «von den USA selbst ausgeführt wurde». Ebenso wie die trumpsche Mauer zwischen Mexiko und den USA und der Slogan «America first». «Dies ist eine grosse Ehre für mich.» Oder die Wahl von Jürgen Klinsmann als Fussball-Bundestrainer. Oder eine Reihe von Hollywoodfilmen.

Das Manifest des Hanauers ist wirr, irr, ein Traktat des Wahns. Der Mann ist offensichtlich verrückt. Jeder psychiatrische Hilfspfleger würde sofort erkennen, es mit einem paranoiden Schizophrenen zu tun zu haben. Und jedes anständige Gericht würde ihn, wäre er noch am Leben, für schuldunfähig erklären und verwahren. Rathjen war krank, nicht böse.

Aus seinen halluzinatorischen Sinntrümmern abzuleiten, er habe «aus rechtsradikalen und rassistischen Motiven» getötet (FAZ), ist eine steile These. Wenn aber alle Leitartikler des Landes zu diesem selben Schluss gelangen, dann hat die Medienwelt ein intellektuelles und ein moralisches Problem. Nüchterne Recherche und unbefangenes Urteilen würden nie eine solch dumm-stramme Einförmigkeit hervorbringen. Die geistige Öde verdankt sich vielmehr einem hysterischen Antirassismus, einem sich als Journalismus missverstehenden Haltungs- und Gesinnungsaktivismus, der Skeptiker und Abweichler als «Relativierer», «Hetzer», «Nazis» diffamiert und diszipliniert.

Deutschland hat tatsächlich ein «massives Naziproblem», aber kein aktuelles, wie der Spiegel meint, sondern ein virtuelles, eines, das wie ein Gespenst aus der schändlichen Vergangenheit kommt und nicht aufhört, die Nachgeborenen zu jagen, zu narren und zu schrecken.

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