Basler Zeitung

19.07.2016

Randnotiz

John Cantlie lebt

Von Eugen Sorg

Kriege sprengen die Sicherungen der Zivilisation und verursachen unsagbare Schrecken und Leid. Gleichzeitig üben sie seit jeher eine eigenartige ­Faszination auf Journalisten und Schriftsteller aus. Grossautoren wie Jack London, Joseph Roth, John Steinbeck, Ernest Hemingway, Michael Herr haben als Kriegsreporter gearbeitet, genauso wie Martha Gellhorn, eine der wenigen Frauen in diesem Metier, die noch als 76-Jährige über den Bürgerkrieg in El Salvador berichtete. Kriege und der mit ihnen einhergehende Ordnungskollaps legen das Innerste des Menschen frei, seine Abgründe, seine Urängste, seine Gier, aber auch seine Fähigkeit zum Mitleid, zur Grossmut. Diese Aussicht auf grosse Geschichten war ein Motiv des erfahrenen britischen Reporters John Cantlie gewesen, in die syrische Bürgerkriegszone zu reisen, wo ihn im Juli 2012 Al Qaida nahestehende Extremisten anschossen und entführten. Cantlie hatte Glück. Nach einer Woche wurde er von Rebellen der gemässigten Freien Syrischen Armee in einer waghalsigen Aktion wieder befreit. Im November darauf war er erneut in Syrien unterwegs, als er ein zweites Mal verschleppt wurde, diesmal mit dem Amerikaner James Foley, einem Berufskollegen und Freund. Die beiden erwartete die Hölle. Sie waren in die Hände des aufstrebenden Islamischen Staates (IS) gefallen. Während den nächsten zwei Jahren wurden Cantlie, Foley und 21 andere mit ihnen ein­­gepferchte westliche Geiseln – Journalisten, Hilfswerkler – von ihren Kidnappern geschlagen, Scheinhinrichtungen zugeführt, an den Füssen ­aufgehängt, gequält und gedemütigt. Die meisten traten zum Islam über, den amerikanischen und englischen Geiseln nützte dies nichts. Ihre Regierungen bezahlen keine Lösegelder. Im August 2014 wurde Foley schliesslich vor laufender Kamera geköpft, danach die übrigen Angelsachsen. Ausser Cantlie. Die Blut­islamisten benützten ihn für Propaganda-Sendungen, wo er die Politik des Westens anklagt und den IS lobt. Seinen letzten Auftritt hatte er vor einer Woche. Das ist die gute Nachricht: John Cantlie lebt. Die schlechte: Der unendlich tapfere, erschreckend abgemagerte 46-Jährige ist immer noch in der Gewalt der frommen Killer. Sollte er überleben, wird er uns eine grosse Geschichte erzählen. Ihm ist aus tiefstem Herzen zu wünschen, dass er noch einmal Glück hat.

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