Basler Zeitung

19.09.2012

Die Tumulte in islamischen Ländern gehorchen nicht gekränkten Sensibilitäten, sie sind vielmehr geschickt inszeniert

Künstliche Wutanfälle

Von Eugen Sorg

Die meisten Kommentatoren in den Medien waren sich einig und wiederholten brav, was auch Hillary Clinton, die Aussenministerin in der US-Regierung von Barack Obama, sowie der Sprecher des Weissen Hauses der Öffentlichkeit mitzuteilen hatten. Ursache der antiamerikanischen Demonstrationen und Ausschreitungen von Australien bis nach Tunesien sei das antiislamische Video mit dem Titel «The Innocence of the Muslims», das auf Youtube aufgetaucht sei. Die bär­tigen Männer seien durch die herabwürdigende Darstellung des Propheten Mohammed in ihren religiösen Gefühlen verletzt worden und müssten daher als Reaktion laut schreien und ameri­kanische Fahnen verbrennen und Botschaften abfackeln. Der Streifen, der den Propheten unter anderem beim angedeuteten Oralsex zeigt, sei «ver­urteilungswürdig und abstossend», urteilte der zum Film­kritiker gewandelte Regierungssprecher, und die Journalisten schlossen sich empört und unisono diesem Urteil an. «Primitiv, dumm, widerlich», sei der Film, vergass keiner als Erstes zu betonen, bevor er seinen Beitrag zur Affäre niederzuschreiben begann.

Plötzlich entdecken dieselben Leute, die sich über die Verhöhnung des Papstes als inkontinenter Greis durch das Magazin «Titanic» gefreut oder die flegelnde Punkmädchengruppe Pussy Riot als mutigste Frauen Russlands gefeiert hatten, weil sie in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche deren Priester als «Scheisse des Herrn» beschimpft hatten, oder die bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig den Juryentscheid beklatscht hatten, jenen Film um die Krankenschwester Anna Maria zu prämieren, in dem sich die «missionarische Krankenschwester» Anna Maria, «die ihre Liebe zu Jesus bis ins Extrem treibt», das heisst, mit dem Kreuz masturbiert – plötzlich ent­decken dieselben Leute ihr mitfühlendes Herz für die tobenden, angeblich in ihren heiligen Empfindungen vergewaltigten Bartträger.

Nun ist das 14-minütige Filmchen tatsächlich derart grottenschlecht gemacht, dass es einen Kultplatz in der Halle der kuriosesten Trashproduk­tionen verdient hätte. Aber warum es jemanden dazu auf­stacheln sollte, eine amerikanische Niederlassung abzubrennen, bleibt ein Geheimnis. Auch ein aufgebrachter Arbeitsloser in Pluderhosen aus Karachi ist nicht so dumm, dass er nicht wüsste, dass der Film nicht von der amerikanischen Regierung, sondern von einer Privatperson gemacht worden ist. Anfänglich ging gar das von der «New York Times» kolportierte Gerücht um die Welt, ein jüdischer Israeli sei der Produzent, etwas später wurde ein ägyptischer Kopte als Verantwortlicher genannt.

Die Ursachen für die Tumulte liegen woanders. Sie waren keinesfalls spontan und gehorchten nicht gekränkten Sensibilitäten, sondern einem schon oft erfolgreich insze­nierten Drehbuch.

Das Filmchen soll ein Jahr lang un­­bemerkt in der virtuellen Welt des Internets existiert haben, bevor es im vorigen Monat von einem salafistischen Fernsehsender in Ägypten ausgestrahlt wurde. Garniert mit antiamerikanischen Tiraden diente es dazu, die Gefolgschaft aufzuheizen und vorzu­bereiten auf den Botschaftssturm, der auf den 11. September, den Jahrestag der Anschläge in Amerika, geplant war.

Die Randale wurde angeführt von Mohammed al-Zawahiri, dem Bruder von Al-Qaida-Boss Ayman al-Zawahiri. «Obama, Obama, wir haben noch eine Milliarde Osamas» war neben «Allahu-akbar» der Schlachtruf des Mobs. Das Video war ein Vorwand. Hätte es ihn nicht gegeben, man hätte einen anderen gefunden oder erfunden – eine Karikatur, ein Teddybär namens Mohammed, eine angesengte Koranseite.

Ebenso war die Verwüstung des amerikanischen Konsulats im libyschen Benghazi innerhalb derselben 24 Stunden Resultat längerer Planung. Die 400 Angreifer waren mit schweren Maschinengewehren und panzer­brechenden Mörsern bewaffnet. Sie hatten die Räumlichkeiten zuvor genau ausspioniert, sie kannten die Adresse des geheimen, sicheren Hauses, wohin sich die diplomatischen Angehörigen geflüchtet hatten, sie konfiszierten klassifizierte Unterlagen, was manchen libyschen Mitarbeiter der Amerikaner das Leben kosten wird, und sie töteten vier Amerikaner, darunter Botschafter Chris Stevens. Der arabische TV-Sender Al Mayadeen zeigte kurz darauf Bilder des Ermordeten, der durch die Strassen von Benghazi geschleift und von aufgeputschten Einheimischen begleitet wird, die mit ihren Mobiltelefonen Erinnerungsfotos schiessen.

Der Benghazi-Sturm war kein Aufschrei frommer Sensibelchen, sondern eine gezielte Kriegshandlung. Einen Tag vor dem Überfall hatte Al Qaida ein Video veröffentlicht, in dem Ayman al-Zawahiri seine Glaubensbrüder aufforderte, sich für die Tötung seines Stellvertreters zu rächen. Abu Al Yahya al-Libi, Nummer 2 von Al Qaida, war im Juni durch eine US-Drohne in Pakistan eliminiert worden.

Die übereifrigen Distanzierungen der Obama-Regierung und der anderen westlichen Politiker vom Schmuddelfilmproduzenten – offenbar ein ehemaliger Drogenhändler und Betrüger – die händeringenden Beteuerungen, nichts gegen den Islam zu haben, bewirkten vor allem eine: Sie beflügelten den brandschatzenden Mob, der ebenfalls Fernsehen schaut und den Angst­schweiss der Westler förmlich riechen konnte. Seit mehreren Tagen rotten sich von Kuala Lumpur über Jakarta, Kabul, Sanaa, Khartum, Kairo bis nach Tunis, quer durch die muslimische Welt, Religionshooligans vor amerikanischen Niederlassungen zusammen und feiern Krawallgottesdienste. Angeblich, um die Ehre ihres Propheten zu verteidigen; tatsächlich, um die allzumenschliche Lust am anarchischen Vandalismus zu geniessen, am Allmachtsgefühl durch die Verschmelzung im Kollektiv, am Rausch der Trieb­jagd und Grenzüberschreitung. Und sie ahnen, dass ihr Feind schwach und unentschlossen ist. Das Kalkül der schlauen islamistischen Drahtzieher ist fürs Erste wieder aufgegangen.

Es ist anzunehmen, dass die US-Regierung selber nicht an ihre Verlautba­rungen glaubt, dass das Video die Ursache für die schlimmste Demütigung ihrer Nation seit mehr als 30 Jahren ist. Auch damals, 1979 in Teheran, stürmten radikale Islamisten, iranische Revolutionsgardisten, die amerikanische Botschaft und nahmen die Angehörigen als Geisel. Das Fiasko kostete dem damaligen Präsidenten Jimmy Carter, einen Erdnussfarmer, frömmelnden Pazifisten und späteren Friedensnobelpreisträger, die Wiederwahl.

Nun stehen erneut Präsidentschaftswahlen an und Barack Obama hat kein Interesse an einer nationalen Diskussion über seine Aussenpolitik. Denn hinter den Gewaltexzessen zeichnet sich das grandiose Scheitern all seiner Initiativen und Versprechen ab.

Der junge, politisch unerfahrene, aber mit messianischem Selbstbewusstsein erfüllte Präsident hatte offenbar geglaubt, es reiche, wenn er der mus­limischen Welt seine exotische Lebensgeschichte erzähle und seine heilende Hand ausstrecke, um sie mit dem Westen versöhnlich zu stimmen. Bis heute ist aber noch kein Konzept einer kohärenten Aussenpolitik sichtbar geworden. Dafür steht der imperial-theokratische Iran kurz davor, eine Atombombe zu besitzen, in Tunesien, halb Libyen, Ägypten herrschen antiwestliche, islamistische Regimes, der palästinensisch-israelische Konflikt ist weiter von einer Lösung entfernt als je zuvor, Syrien versinkt in Gewalt und Chaos und Mali ist als Kollateral­schaden der blutigen und unüberlegten Beseitigung Muammar al-Gaddhafis auseinandergebrochen mit einer Al-Qaida-nahen Regierungsclique in jenem Landesteil, der näher zu Europa liegt.

Was den narzisstisch veranlagten US-Präsidenten vielleicht am meisten ärgern könnte, ist der Umstand, dass gemäss einer Umfrage des Pew-Instituts vom Juni dieses Jahres das Ansehen Amerikas seit 2009 in allen Ländern der Erde ausser in Russland und Japan gesunken ist und dass sogar George W. Bush am Ende seiner Amtszeit in Ägypten populärer war als Obama dort heute. Kein Wunder also, wenn seine Administration die jüngsten antiamerikanischen Ausschreitungen einem vollkommen bedeutungslosen, dubiosen Filmchenamateur in die Schuhe zu schieben versucht. Es ist Wahlkampf. Aber von den Medien dürfte man mehr Unabhängigkeit und politische Intelligenz erwarten.

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