Basler Zeitung

09.11.2012

Wirbelstürme kann man nicht verhindern – ihre Folgen aber schon

Zivilisation und Dunkelheit

Von Eugen Sorg

Es braucht wenig, um die Grenzen zwischen Zivilisa­tion und Barbarei einbrechen zu lassen. Zum Beispiel einen viertägigen Stromausfall, wie ihn der Hurrikan Sandy vor zwei Wochen in New York und an anderen Orten der amerikanischen Ostküste verursacht hatte. Umknickende Bäume, Grossbrände, bis zu vier Meter hohe Flutwellen hatten den Stromanschluss für Millionen von Menschen gekappt und die Infrastruktur lahm­gelegt. Die entfesselte Gewalt des Tropensturms war einschüchternd, aber ebenso beängstigend war das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Schutzlosigkeit, das mit dem Kollaps der ­Ordnung einherging. Vor allem wenn die Sonne verschwand und die Häuser und Strassen im ­Dunkel versanken, machte sich Angst breit. Die Fernsehgeräte waren ruhig, auf den Strassen hörte man kaum noch Autos, und in der Stille ­tönten die Schritte im Hausgang, der Schrei aus der oberen Wohnung oder ein Schuss irgendwo in der Nachbarschaft doppelt so laut.

Geschichten von Überfällen oder Vergewaltigungen in unbeleuchteten Treppenhäusern machten die Runde; von Räubern, die an der Tür klopften, sich als Polizisten ausgaben, mit der Taschenlampe die Leute blendeten, die ID verlangten und mit der Brieftasche verschwanden; von als Katastrophenhelfer getarnten Dieben, die sich Zugang zu ­verlassenen Wohnungen verschafften und sie ­ausräumten. Apotheken, Bankfilialen, Schnaps­läden, Lebensmittelgeschäfte wurden auf­gebrochen, geplündert, die Beute zum Teil wieder verkauft.

In den Sozialsiedlungen tauchten Schilder auf wie: «Plünderer werden erschossen» oder «Dieser Block wird bewacht durch Smith and Wesson». Eine Bewohnerin erzählte einem Reporter der «New York Times», dass mitten in der Sturmnacht jemand versucht habe, ihre Wohnungstüre von aussen aufzuschrauben. Eine andere verriet, dass sie eine Sprengfalle an der Haustüre angebracht habe. Viele meinten, sie schliefen mit dem Gewehr oder dem Baseballschläger neben dem Bett und würden keine Sekunde zögern, diese einzusetzen. Kurze lokale Berühmtheit erlangte jener Surfer vom Strand der Rockaways bei Queens, der erwähnte, dass neben einer Messersammlung und einer Machete auch ein straff gespannter Bogen mit Pfeilen auf jeden Einbrecher warten würde. Es sei momentan wie im Wilden Westen, meinte er, eine gesetzlose Grenzsituation.

«Du weisst nie, was dich erwartet, wenn du in den Eingang deines Hauses trittst», sagte ein weiterer junger Mann dem «Times»-Reporter, darauf anspielend, dass die automatische Türverriegelung wegen des Stromausfalls nicht mehr funktionierte. «Die Polizei schickt zwar Streifen in die Gegend, aber die Cops verlassen den Wagen nie. Sie haben ebenso Angst wie wir.»

Den Behörden gelang es, ein völliges Abgleiten in die Anarchie zu verhindern. Sie verstärkten die Sicherheitskräfte mit nationalen Truppen, verfolgten effizient und schnell Plünderer, installierten in gewissen Quartieren imposante Scheinwerfer, um das beängstigende und gleichzeitig verführerische Dunkel zu vertreiben. New York hatte aus früheren Vorkommnissen gelernt.

1977 beispielsweise hatten Blitzeinschläge das Stromnetz der Megacity lahmgelegt. In der Dunkelheit der brütend heissen Julinacht waren bald Abertausende Menschen unterwegs, hauptsächlich Hispanics und Schwarze, die plündernd und marodierend durch die Quartiere zogen. Unter dem fröhlichen Schlachtruf «Es ist Weihnachten» wuchteten sie Geschäfte auf, schleppten alles mit, was sie transportieren konnten. Ein Mann wurde festgenommen, der 300 Spühlbeckenstöpsel mit sich trug. In der Bronx stahl eine Horde 50 brandneue Pontiacs, Plünderer überfielen andere Plünderer, 550 Polizisten wurden beim vergeblichen Versuch, die gesellschaftliche Kontrolle zurück­zuerobern, verletzt. Nur die Mafia in Little Italy war fähig, den Barbarenansturm aufzuhalten. Als 24 Stunden später das Licht wieder einsetzte, ­trottete der Pöbel nach Hause. 1600 Geschäfte waren in der Orgie vernichtet, über 1000 Liegenschaften angezündet, gegen 4000 Leute verhaftet worden.

Versagen die technologischen und institutionellen Krücken einer Zivilisation, brechen in der Regel auch die moralischen ein. Zurückgeworfen auf die pure Existenz, kann sich ein vegetarischer ­Surfer-Hippie vom Rockaway Beach in kürzester Zeit in einen Krieger verwandeln, der bereit ist, einen anderen Menschen zu töten, weil der ihm seine Brieftasche und seinen Computer stehlen will. Oder er wird selber zum Marodeur, weil sich plötzlich eine verlockende Gelegenheit dazu bietet. Oder er geht als grossherziger und mutiger Mitmensch aus dem Kollaps hervor, der mit den Nachbarn sein Essen und seinen Wasservorrat teilt und sie vor Dieben beschützt.

Eben dies taten Tausende von Leuten, als am 9. November 1965 New York von einem Blackout betroffen gewesen war. In dieser Nacht wurden nur fünf Plünderungen gemeldet. Sie ging als die Nacht mit den wenigsten Verbrechen in die ­Kriminalstatistik der Stadt ein.

Vielleicht hatte geholfen, dass der Vollmond am klaren Himmel stand. Auf jeden Fall ist ein derartiger Ausgang selten. Wahrscheinlicher sind egoistische Überlebenspanik, auch Gier und destruktiver Massenrausch als Reaktion auf sich auflösende Ordnung. Wie auch in New Orleans 2005 nach dem Sturm Katrina und an vielen anderen Orten in der Geschichte.

Nun kann man die menschliche Natur nicht ver­ändern, ebenso wie man Hurrikane oder sonstige Naturgewalten nie wird verhindern können. Aber die USA wären als technologisch führende Nation in der Lage, das Stromnetz von New York so unter den Boden zu verlegen, dass es von umstürzenden Bäumen oder Wassermassen nicht mehr zum Erliegen gebracht werden kann.

Die Regierung Obama hat bisher die schwindel­erregende Summe von fast einer Billion Dollar als sogenannter Stimulus an politisch genehme Unternehmen und Organisationen verteilt. Mit einem Bruchteil davon hätte man das marode Stromsystem renovieren können. Es hätte sich gelohnt. eugen.sorg@baz.ch

Zurückgeworfen auf die pure Existenz, kann sich ein vegetarischer Surfer-Hippie in kürzester Zeit in einen Krieger verwandeln.

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