Die Weltwoche

20.06.2019

Eine Frage der Moral

Martin Luther Kings Sündenfall

Von Eugen Sorg

Enthüllungen des Historikers David Garrow stellen die Donatisten des MeToo-Zeitalters vor ein Dilemma: Müssen sie die Heiligenfigur der Afroamerikaner neu beurteilen?

Kann ein schlechter Mensch Gutes erschaffen? Können ein Kunstwerk, eine herausragende wissenschaftliche oder politische Leistung weiterhin verehrt werden, auch wenn sich herausstellt, dass ihre Urheber im privaten Leben moralisch verwerflich oder gar abstossend handelten?

Die Antworten auf diese alten Fragen fielen in jüngster Zeit eindeutig aus. Wer in der Ära von MeToo vom Scherbengericht des Internet-Mobs eines moralischen Vergehens für schuldig befunden wird, fällt nicht nur der sozialen Ächtung anheim, sondern muss auch damit rechnen, dass sein ganzes Werk unter Giftverdacht gestellt wird. Leinwand-Ikone und Oscar-Preisträger Kevin Spacey beispielsweise wurde der wiederholten sexuellen Übergriffe bezichtigt. Es folgte ein jäher und tiefer Sturz vom hollywoodschen Olymp. Er wurde aus seinem neuesten, bereits fertiggestellten Film wieder herausgeschnitten, und der Sender Netflix kippte ihn aus der global erfolgreichen TV-Serie «House of Cards», einer auch dank Spaceys mimischer Virtuosität grossartigen und abgründigen Studie über Macht, Sex und Korruption.

Die selbsternannten Richter unterscheiden nicht zwischen dem Künstler und seiner Kunst. Sie können Wahrheit und Wert einer Schöpfung nicht unabhängig vom Urheber denken und klassifizieren. Ist der Autor verderbt, so deren Urteil, muss auch sein Werk kontaminiert sein, egal, ob man es eben noch gefeiert hat.

Mit demselben Rigorismus werden Figuren aus der westlichen Geschichte unter die Lupe genommen: Feldherren, Philosophen, Politiker, Unternehmer, in der Regel weisse Männer. Wird die Tugendpolizei fündig – und das wird sie immer, weil sie das Verhalten der Altvordern an den heute geltenden Massstäben misst –, werden die Gedenktafeln der Überführten zerstört, deren Statuen umgeworfen, deren Bücher aus dem Lehrplan verbannt.

Diese ahistorisch-moralistische Haltung erinnert an die Lehre der Donatisten, einer christlichen, sektenartigen Bewegung im Nordafrika des 4. Jahrhunderts. Sie vertraten die Auffassung, dass Gebete nur wirksam seien und die heiligen Sakramente wie Taufe, Abendmahl oder Priesterweihe nur gültig, wenn der sie zelebrierende Kirchenmann persönlich absolut sündenfrei sei. Wie ihre modernen Wiedergänger glaubten auch die Anhänger von Donatus von Karthago, dass ohne makellose Tugend- und Glaubensbilanz keine Wahrheit und keine Erlösung möglich seien.

Allerdings reagieren unsere modernen Donatisten nicht immer konsequent. Diesen Monat erschien im britischen Magazin Standpoint. ein längerer Beitrag über Dr. Martin Luther King. Der Verfasser David Garrow, renommierter Historiker, der für eine frühere Biografie über King mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet worden war, zeichnet darin ein verstörendes Bild vom Helden der Bürgerrechtsbewegung. King war jahrelang vom FBI überwacht worden. Man hatte seine Wohnung und seine Büros verwanzt, ebenso die Hotels, in denen er abstieg. Nun war ein Teil der Abhörprotokolle zugänglich geworden, Garrow zitiert für seinen Artikel ausführlich aus ihnen. Reverend King, verheirateter Vater von vier Kindern, entpuppt sich als munterer Fremdgänger mit über vierzig Geliebten, als Harvey Weinstein der Bürgerrechtsbewegung. Die Protokolle erzählen von seiner Vorliebe für Gruppensex wie etwa mit einer bekannten schwarzen Gospelsängerin und einer weissen Prostituierten, zu dem er einen Kollegen herbeitelefonierte: «Beweg deinen verdammten Arsch her, ich habe eine wunderbare weisse Tusse hier.» Man erfährt, dass sich King mit einem befreundeten Baptistenpfarrer in einem Hotel in Washington getroffen habe. Der Freund war in Begleitung von einem Dutzend weiblicher Angehöriger seiner Kirche. Als die beiden Männer sich darüber berieten, welche der Frauen sich für welche Sexpraktiken eignen würden, habe eine der Anwesenden protestiert, worauf der Pfarrfreund sie vergewaltigt habe. Laut FBI-Lauschprotokoll aus dem benachbarten Hotelzimmer habe King «zugeschaut, gelacht und Tipps gegeben».

Die King-Enthüllungen stellten die Donatisten des hMeToo-Zeitalters vor ein Dilemma. Stimmten die Vorwürfe und Dr. King war tatsächlich Komplize bei einer oder mehreren Vergewaltigungen gewesen, müssten sie gemäss ihren Vorstellungen das Vermächtnis Kings neu beurteilen, konsequenterweise auch die Umbenennung all der Tausende Schulen, Parks, Strassen und Gedenkstätten fordern, die seinen Namen trugen. Denkbar bei einem verspotteten Südstaatengeneral, undenkbar bei einer säkularen Heiligenfigur wie dem Afroamerikaner King. Sie beschlossen, die Sache auszusitzen. Historiker Garrow hatte seinen Beitrag der New York Times, dem Atlantic, der Washington Post und dem Guardian angeboten. Keines der führenden linksliberalen Blätter druckte ihn ab.

Kirchenvater und Schriftsteller Augustinus hatte schon damals der rigiden Moral der Donatisten widersprochen. Auch fehlbare Priester könnten gültige Sakramente spenden, befand er, sei doch Christus selber der Schöpfer dieser heiligen Handlungen. Und übrigens seien alle Menschen sündig, sogar die Heiligen, «solange sie noch im Leibe lebten». Übersetzt in die heutige Zeit heisst dies, dass erstens auch unvollkommene Menschen grosse Dinge vollbringen können; dass es zweitens eine objektive Wahrheit ausserhalb von uns selbst gibt, unabhängig von unseren Meinungen und Einfällen; und drittens, dass alle Menschen Fehler begehen, zum Teil auch schwerwiegende. Diese Möglichkeit ist Teil der Conditio humana.

Wenn die FBI-Files die Wahrheit erzählen, dann hat King moralisch unappetitliche, verabscheuungswürdige Dinge getan. Schmälern sie seine Verdienste um eine Gesellschaft ohne rassische Diskriminierung? Nein. Er riskierte sein Leben im gewaltfreien Widerstand gegen Dummheit und Unterdrückung. Sein Erbe ist grösser als seine Person.

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