Basler Zeitung

08.04.2016

Eine Frage der Moral

Missbrauchtes Mitleid

Von Eugen Sorg

Zu den beliebtesten Lesergeschichten weltweit gehören neben Sexenthüllungen oder Gross­verbrechen Berichte über dreiste Sozialhilfe­betrüger und falsche Notleidende. Erfolgreiche Boulevardzeitungen wie etwa die englische Daily Mail präsentieren ihrem Publikum im Wochentakt ein neues Exempel aus diesen Niederungen menschlichen Treibens.

Da war beispielsweise jene 49-jährige Mutter aus Ashford, Kent, die von ihrer Tante 400 000 Pfund geerbt, damit eine Villa in Florida gekauft, für 1300 Pfund die Woche vermietet und sich ­teuren Schmuck und Pferde angeschafft hatte. Gleichzeit erschlich sie sich in den folgenden ­Jahren 40 000 Pfund an staatlicher Unterstützung für ihre Mietwohnung in England. Als der ­Schwindel zufällig aufflog, versuchte sie sich vor Gericht mit dem windigen Argument von ­moralischer Schuld zu säubern, sie habe das Erbe nicht als persönlichen Besitz, sondern als ­Vermächtnis an ihre zwei Töchter betrachtet. Sie wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Grosszügiger Zustupf

Oder die 59-jährige Bardame, die geltend machen konnte, wegen einer schmerzhaften Arthritis und bösen Krampfadern sich nicht mehr selber ankleiden, nicht mehr allein auf die ­Toilette, geschweige denn ein Pint Bier stemmen zu können. Sie hatte bereits 27 000 Pfund ­Sozialhilfe wegen Arbeitsunfähigkeit bezogen, als ein Sozialdetektiv filmte, wie sie nicht nur in drei Pubs arbeitete, sondern auch mühelos Bier zapfte, Harasse lupfte und während eines ­Weltcup-Fussballspiels innerhalb einer Stunde über 50 Pints an die Tische trug.

Über starke Gliederschmerzen, über die Osteoarthritis, die ihm schon die wenigen Schritte auf die Toilette zur Tortur mache, klagte auch jener 67-Jährige, der dafür insgesamt 21 000 Pfund staatlicher Zusatzleistungen wegen ­schwerer Gehbehinderung einstreichen durfte. Der Zustupf wurde gestoppt, als jemandem auffiel, dass der Rentner anlässlich von Blues-Brother-­Tribute-Acts regelmässig auf der Bühne stand respektive tanzte und auch sonst als DJ und ­Entertainer eine beneidenswert rüstige Figur abgab. Er erschien vor Gericht am Stock und ­entschuldigte sich, dass er «vergessen» habe, seine Zusatzeinkünfte anzugeben.

Oder der gesunde und kräftige 35-jährige Mann, der seit Jahren im Geschäftsviertel der City bettelte, angeblich obdachlos, neben sich seinen Hund. Eines Tages wurde er gesehen, wie er nach verrichtetem Tagwerk in einen eleganten, 70 000 Franken teuren Audi TT stieg. Gefilmt und auf Facebook blossgestellt, behauptete er, der Wagen, den er im Übrigen von seiner Grossmutter geerbt habe, sei ihm bereits wieder gestohlen worden, und an normale Arbeit sei nun erst nicht mehr zu denken, da ihn das Aufhebens um seine Person in grossen Stress versetzt habe. Neulich habe ihn sogar ein anderer Bettler angespuckt, weil er das Ansehen ihres Standes beschmutzt haben soll. Nach einigen Tagen kehrte er wieder an seinen alten Wirkungsort zurück. Strassenbettler sollen nach Schätzungen von Kennern an optimalen Tagen bis zu 700 Franken verdienen.

Die Fälle gehen nie aus, ebenso wie der ­Appetit der Leserschaft auf diese nie erlischt. Warum? Die Geschichten rühren an die stetig gefährdeten Sicherungssysteme des Zusammen­lebens. Solidarität, Kompassion, Fürsorge, die über die Kernfamilie hinausgehen, garantieren die Kohäsion der Gesellschaft. Kaum eine Enttäuschung ist bitterer als diejenige über ausgenützte Hilfsbereitschaft. Nicht die Höhe der Geldsumme ist entscheidend, sondern das missbrauchte ­Vertrauen. In den zuverlässig folgenden ­Kommentargewittern wird das Verschulden des Täters ausgemessen – Gier oder Schlaumeierei? Hinterlist oder Dummheit? Faulheit oder Not? – und werden die moralischen Regeln in ihrer ­Gültigkeit bestätigt. Guter Boulevard ist grosses Menschentheater und gelebte Moralphilosophie.

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