Basler Zeitung

10.05.2016

Randnotiz

Ohne Narkose

Von Eugen Sorg

Wenig bezeichnet den Unterschied zwischen ­barbarischen und modernen, aufgeklärten Zivilisationen deutlicher als die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM). In Dutzenden ­Ländern Afrikas, der arabischen Welt und Asiens werden jungen Mädchen Klitoris, innere und äussere Schamlippen weg- oder aufgeschnitten und zugenäht. Durchgeführt werden die Eingriffe in den meisten Fällen durch traditionelle Hebammen oder ältere Frauen. Operiert wird mit Messer, Glasscherbe, Rasierklinge, Schere, Konservendeckel. Die Wunden werden mit Bindfaden, Schafdarm, Pferdehaaren, Bast verschlossen. In der Regel ohne Narkose. Gefährliche Blutungen, Infektionen, lebenslange Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Tod sind die häufigen Folgen. Geschätzte 200 Millionen genitalverstümmelte Mädchen und Frauen leben heute auf unserer Erde, und jeden Tag kommen 8000 weitere dazu. Der Grossteil der Betroffenen kommt aus muslimischen Kulturen, aber auch die christlichen Gemeinschaften in den Bergen ­Eritreas oder Äthiopiens kennen dieses grausame Ritual. Der Brauch der Beschneidung ist älter als die beiden Religionen, doch nur der Islam hat ihn zum schariatischen Gesetz kanonisiert. Im ­Standardwerk der islamischen Rechtslehre, «Umdat al-Salik», heisst es zum Beispiel deutlich: «Zirkumzision ist Pflicht (…) und Zirkumzision heisst für die Frau, dass man die Klitoris (bazr) herausschneidet.» (Umdat al-Salik e4.3)

Weder UNO-Resolutionen noch westliche ­Mahnungen, sondern erst die Abkehr der religiösen ­Eliten und Wortführer von ihren sklerotischen, wortfetischistischen, misogynen Glaubensauf­fassungen wird dem archaischen Brauch ein Ende bereiten. Davon ist in der islamischen Welt aber weniger denn je zu sehen. Vor Kurzem ­berichtete die Times of India von Syedna Mufaddal ­Saifuddin, einem der ehrwürdigsten islamischen Geistlichen Indiens, der dazu aufgerufen hatte, die Gesetze des Landes zu missachten und die Frauen, «diskret», weiterhin beschneiden zu lassen. «Das muss getan werden.» Solange harmlose Propheten­karikaturen in fernen Ländern Abertausende ­wutbebende Koranjünger auf die Strassen treiben, das Leiden der eigenen misshandelten Töchter und Frauen diese hingegen kaltlässt, solange ist man noch weit entfernt von der zivilisierten Moderne.

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