Die Weltwoche

25.04.2019

Eine Frage der Moral

Sakraler Populismus

Von Eugen Sorg

Die Geschichten von Heiligen verlieren ihre Kraft, wenn sie für profane Interessen herhalten müssen. Die Botschaften des modernen Franziskus zeigen das exemplarisch.

Wie viele Divisionen hat der Papst?», hat Stalin einst zynisch angemerkt. Der Vatikan, Sitz des Heiligen Vaters mit rund tausend überwiegend männlichen Einwohnern, ist der kleinste Staat der Welt. Er hat seit Jahrhunderten keine eigene Armee mehr, sieht man ab von der pittoresken Leibgarde des Papstes, den hundert mit Hellebarden bewehrten Schweizergardisten, und dem mit Panzerglas verstärkten Papamobil. Trotzdem gelingt es dem zwergenhaften Gottesstaat, die 1,3 Milliarden auf allen Kontinenten lebenden Gläubigen als globale Gemeinde zusammenzuhalten. Die letzte grosse Spaltung geschah vor 500 Jahren, seit da sind die Katholiken ihrer Kirche trotz notorischen Skandalen und einem zunehmend säkularen Zeitgeist mehrheitlich treu geblieben. Nicht aus Höllenangst oder, wie noch heute im Islam, aus Angst, bei Abfall vom Glauben getötet zu werden. Sondern freiwillig. Weil die Kirche ihnen Herzensnahrung gibt. Die in 2000 Jahren liturgisch perfektionierten Messen und Feiern stimulieren die Sinne, stiften Gemeinschaft und heben den Einzelnen aus der Zufälligkeit und Endlichkeit seiner Existenz in die Heimat einer überzeitlichen Tradition. Und die Geschichten von Heiligen, Erlösung und Wundern verleihen dem Leben einen Sinn, lehren, was wahr und gut und was böse ist, veranschaulichen, warum es gut ist, Gutes zu tun.

Als oberster Zeremonienmeister und Hauptdarsteller in diesem sakralen Welttheater figuriert der Papst selber. Und kaum einer hat diese Rolle bisher derart zeitgeistig, politisch und publikumshungrig interpretiert wie der jetzige Amtsinhaber Franziskus, der argentinische Jesuit Jorge Bergoglio. Die Wahl des Papstnamens ist Programm. Der historische Franziskus, der heilige Franz von Assisi, war der Gründer des Bettelordens der Franziskaner, die jeglichem irdischen Besitz und Ruhm abschworen und nach dem Vorbild Jesu Christi betend und predigend unter den Ärmsten und Verstossenen lebten. Der moderne Franziskus predigt ebenfalls Demut und Verzicht und fordert eine «Kirche für die Armen». Er wohnt im Gästehaus des Vatikans statt im Palast, verzichtet auf rote Slipper, Operettenprunk und Brüsseler Spitzen, die sein Vorgänger so liebte, und sein Brustkreuz ist aus Blech und nicht aus Gold. Vor allem aber widmet er sich den Migrantenströmen aus dem Süden, in denen er die Ärmsten und Verstossenen unserer Tage ausmacht. Diesen zu helfen und sie brüderlich zu empfangen, bildet das zentrale Thema seines bisherigen Pontifikats.

Franziskus verkündet seine Botschaft mit bis ins kleinste symbolische Detail perfekt inszenierten Auftritten. Als seine erste Pastoralreise 2013 wählt er Lampedusa, jene Insel, wo damals die meisten Armutsmigranten aus Afrika auf ihrem Weg nach Europa an Land gingen. Er hält unter freiem Himmel vor 10 000 Menschen eine Messe ab. Kanzel, Messbecher, Kreuz und Hirtenstab sind aus dem Treibholz gekenterter Boote gefertigt. Er beklagt die «Globalisierung der Gleichgültigkeit», verurteilt die «anonymen» wirtschaftlichen Profiteure des Migrationsdramas und heisst eine Gruppe illegaler Neuankömmlinge mit Handschlag herzlich willkommen. Die zahlreich anwesenden Journalisten sind begeistert. Und sie sind es auch, als der Pontifex bei anderer Gelegenheit die Füsse eines Flüchtlings oder einer verlegenen muslimischen Gefängnisinsassin wäscht und küsst. Oder wenn er gezielt Modebegriffe aus den links-grünen Milieus wie «Inklusion» oder «Diversität» in seine Predigten einfliessen lässt oder Sätze sagt wie: «Der Kapitalismus tötet.» Und sie freuen sich ganz besonders, wenn er Trump angreift: «Wer Mauern baut anstatt Brücken, ist kein Christ.»

Die Leute in den reichen westlichen Ländern helfen grosszügig Armen und Verfolgten aus allen Kulturen und Ländern. Aber sie wissen auch, dass die Kapazitäten irgendwann erschöpft sind und die Hilfe ruinös wird. Und dass nicht nur Arme und Verfolgte und Dankbare kommen wie die vom Papst gefeierte legendäre Josefina Bakhita, eine junge Sklavin aus dem Sudan, die es nach Italien verschlug, wo sie in ein Kloster eintrat und später heiliggesprochen wurde. Und ebenso weiss jeder nüchterne Zeitgenosse, dass der Bau von Mauern nicht nur wirksam, sondern auch moralisch legitim sein kann. Dies sollte Franziskus bekannt sein.

Der Vatikan ist der einzige Staat der Welt, der vollständig von Mauern umgeben ist. 846 hatte ein muslimisches Heer Rom überfallen und heilige Grabstätten geplündert und geschändet. Papst Leo IV. reagierte mit dem Bau einer massiven Befestigungsmauer, die in den folgenden Jahrhunderten weiter ausgebaut wurde, da die muslimische Gefahr anhielt.

Wer aus dem Schutz einer Verteidigungsmauer heraus den Mauerbau eines anderen geisselt, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Man ahnt politisches Kalkül. Zum Beispiel, dass sich der Argentinier Bergoglio mit seinem Flüchtlings- Gospel nicht nur bei den mächtigen links-grünen Medieneliten anbiedern möchte, sondern mittels Anti-Trump-Polemik auch um die Gunst der lateinamerikanischen Katholiken wirbt, die fast die Hälfte der Weltkirche ausmachen und die sich zunehmend empfänglich für die Lockrufe der evangelikalen Konkurrenz zeigen.

Doch die Geschichten von Heiligen und Wundern verlieren ihre moralische Kraft und Wahrheit, wenn sie für profane Interessen herhalten müssen. Sie erinnern plötzlich an scharlatanesken Kitsch, und die Botschaft des modernen Franziskus klingt prätentiös und hohl. Hohl wie sakraler Populismus. Die Kirche aber hätte mehr zu bieten.

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