Das Magazin

17.02.2001

SEX ODER LIEBE

In den Betten der meisten Paare herrscht Langeweile. Zeitgeist, Naturgesetz oder vermeidbarer Umstand?

Text Eugen Sorg Bilder Zoé Tempest

Der Beginn ist drängend, das verliebte Paar kann nicht genug bekommen voneinander, jede Berührung verlangt nach mehr, und keiner mag sich vorstellen, dass es jemals enden wird. Wann es sich ändert, weiss man nicht genau. Es passiert unmerklich, unspektakulär, mit der sanften Gewalt der Zeit. Leise schleicht sich die Lust davon.

Die ersten Anzeichen will man nicht wahrhaben; die Erkenntnisse kommen später, unvermittelt, als kleine Irritation, als schlechtes Gewissen, als stummes Erschrecken. Das Fleisch des anderen erregt kaum mehr. Der eheliche Verkehr, stellt man plötzlich fest, hat sich abgenützt, wurde seltener, zudem eher eine standardisierte Leibesübung. Bruder Überdruss und Schwester Langeweile legen sich ins Bett, und bevor sie wegschlafen, fragt sie ihn, liebst du mich noch, und er antwortet, aber Schatz, das weisst du doch.

Schwer festzumachen, von wem die Erkaltung ausgeht. Sie breitet sich aus und nistet sich in den Körpern ein, unbeeinflussbar vom Willen des Paares. Gleichzeitig wächst die Kränkung, vom anderen nicht mehr begehrt zu werden, auch wenn man seine Umarmung kaum mehr ersehnt. Aber wie kann man jemandem Lieblosigkeit vorwerfen, wenn man selbst die entsprechenden Gefühle nicht mehr aufbringt?

Franco S. «Ich war 21 und Karola 20, als wir uns verliebten. Wir wohnten von Anfang an zusammen, erst in einer WG, dann zu zweit. Unser Sex hatte nie die Gier von Eskapaden. Nicht die Kleider vom Leib reissen, keine extremen Sachen. Sex war nicht mal der Mittelpunkt, aber er war auch nicht unwichtig.

Die ersten Jahre schliefen wir etwa zweimal in der Woche miteinander. Bei Karola war es so: Wenn sie müde war oder keine Lust hatte, war nichts zu machen. Von Anfang an. Ich konnte sie nicht rumkriegen. Bei ihr musste alles rundherum stimmen. Sie ist nicht die Frau für schnelle Nummern.»

Karola S. «Wir hatten anfänglich täglich Sex. Nur schon, wenn man den anderen sah, hatte man Lust aufeinander. Wobei mein Sex stimmungsabhängig ist. Wenn ich mit Franco Streit hatte, lief nichts. Bei meiner besten Freundin ist das anders. Die streitet mit ihrem Mann, dann schlafen sie miteinander und dann chären sie dort weiter, so sie aufgehört haben.»

Die Verlockung liegt nahe, nach Gründen zu suchen, die einen entlasten und dem anderen die Schuld aufbürden. Was leicht gelingt. Kein Mensch ist vollkommen, und ganz besonders nicht der eigene Partner. Der Enttäuschte hat einen untrüglichen Blick für die Schwächen des anderen und gibt ihm täglich zu spüren, dass diese die wahre Ursache der Entfremdung seien. Das Paar tritt in die kleine Hölle des Beziehungskrieges ein, dessen Auslöser die drohende Verdampfung des sexuellen Interesses war und der keine gemütliche Zukunft verheisst.

Nicht immer muss es so verlaufen, aber wahrscheinlich tut es das häufig. Seit 20 Jahren verzeichnen die Statistiken der reichen Länder einen steten Zuwachs der Scheidungen. In den Grossstädten endet heute jede zweite Ehe vor dem Richter. Eine ganze Industrie lebt vom Beziehungsabsturz: Anwälte; Mediatoren (ein Beruf, der erfunden wurde, um Trennungen reibungsloser abzuwickeln); Zeitschriften (wie die französische «Divorce», die nützliche Scheidungstipps unter die Leserschaft bringt); Privatdetekteien.

Niemand kann natürlich wissen, warum sich alle diese Paare, die den unbedingten Willen zum Bund fürs Leben offiziell manifestiert haben, denselben oftmals wenige Jahre später partout wieder auflösen wollen. Es gibt 1001 gute Gründe fürs gemeinsame Unglücklichsein. Sicher ist nur, dass die äusseren Bedingungen es heute einfach machen, vor allem für Frauen, ein Eheverhältnis zu beenden. Der Status einer «Geschiedenen» hat nichts Anrüchiges mehr, und ihr Leben finanzieren kann eine Frau auch ohne Mann.

Franco S. «Für meinen Geschmack war Karola etwas bieder gekleidet, und ein wenig mehr Frivolität hätte mir gefallen. Einmal war ich mit meinem Stift in Mailand. Ich hatte damals eine Werkstatt und brauchte Ersatzteile. Dann sah ich ein Geschäft mit schönen Dessous. Ich schickte den Stift rein und wartete in einer Bar. Er kam zurück mit Strapsen. Mit braunen Strapsen. Der arme Kerl musste nochmals antraben und sie gegen schwarze umtauschen. In Zürich gab ich sie Karola. Sieh mal, was ich Schönes habe. Es endete im Desaster. Ich bin doch keine Nutte, heulte sie los. Ich entsorgte das Teil auf der Stelle.»

Karola S. «Einmal schenkte mir Franco an Weih-nachten Unterwäsche, Slip und BH aus weissen Spitzen, wunderschön. Ich packte es aus, nahm es in die Hand und fing an zu weinen. Was er eigentlich von mir wolle?, schrie ich ihn an. Franco griff sich die Wäsche und warf sie in den brennenden Ofen.

Lange Zeit befürchtete ich, Franco habe Gelüste, die mir ablöschen könnten, dass er mir plötzlich Rollenspiele vorschlage, Sadomaso, krankenschwesterlen, was weiss ich. Möglicherweise hielt ich ihn deswegen immer etwas auf Distanz, war ich vorbeugend ein wenig streng, damit er gar nicht auf dumme Ideen kommt. Aber er kam nie mit solchen Dingen.

Ich war eher verklemmt, nicht total schamhaft, aber ich hatte feste Vorstellungen im Kopf, was man tut und was nicht. Franco ist völlig unbefangen. Läge ein Pornoheft auf dem Tisch, würde er es nehmen, einige Seiten überblättern, bei anderen verweilen, ganz gelassen. Er kann äussern, was ihm gefällt, grosse Busen beispielsweise oder sexy Kleidung. Ich fand immer, wie ist der einfach gelismet, primitiv, und ich distanzierte mich innerlich und stellte mich über ihn. Heute bin ich freier. Ich habe von ihm gelernt.»

Einen Hinweis auf die Fliehkräfte im Inneren des modernen Paarwesens liefert der Hambur-ger Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt. In seinem Buch «Sexuelle Verhältnisse» (Rowohlt, 1998) bezieht er sich auf internationale Studien über das Sexualverhalten von Männern und Frauen. Alle kämen insgesamt zur Einschätzung, dass weite Teile der heterosexuellen Welt «sexuell sehr inaktiv» seien. Ob single oder verheiratet, ob in Helsinki oder in San Francisco. 80 Prozent der Befragten hätten im Jahr vor der Befragung keinen oder nur einen Sexualpartner gehabt; oder die Hälfte aller Befragten hätte seltener als einmal pro Woche Geschlechtsverkehr. Und dieser magere Befund decke sich mit den Erfahrungen der Fachstellen für sexuelle Störungen.

Schmidt und seine Mitarbeiter an der Abteilung für Sexualforschung der Uni Hamburg zum Beispiel hätten eine starke Zunahme der Patientengruppe mit der Symptomatik «Ich habe keine Lust» zu verzeichnen. Vor 25 Jahren hätten zehn Prozent der Frauen, welche die Sexualberatungsstelle der Uni aufgesucht hätten, über sexuelle Appetitlosigkeit geklagt. Heute seien es 60 Prozent. Bei den männlichen Klienten sei der Anteil von fünf auf immerhin 15 Prozent angestiegen.

Für Schmidt und einige andere Sexologen zeigen solche Beobachtungen und Zahlen einen klaren Trend auf. Die Heteroerotik in den westlichen Industrieländern sei von einer generellen Verkarstung und «Verödung» befallen und die sexuelle Langeweile «längst massenhaft zu einem Problem» geworden.

Franco S: «Nach etwa sieben Jahren kam die Krise. Ich hatte Karola etwas vernachlässigt. Mein Geschäft war verschuldet, ich war viel mit den Kollegen unterwegs, und ich trank ziemlich viel. Karola fand ich sexuell immer noch attraktiv, aber sie mich nicht mehr. Sie blockte ab und war am Wegdriften.

Einmal hatte sie Kopfweh, dann die Periode, dann einen Ausschlag, dann wieder was anderes. Eine Zeit lang hatte sie auch ein eigenes Zimmer, Motto: Frauenpower und so. Immer hatte sie einen Grund, um nicht mit mir zu schlafen. Es schiss mich an, aber ich musste lernen, es zu akzeptieren. Es war eine schlechte Zeit. Vier Jahre lang hatten wir praktisch sexuellen Stillstand.»

Karola S. «Irgendwann kamen die «bösen» Jahre. Franco fehlte der Sex, und ich hatte überhaupt keine Lust mehr. Auch nicht auf andere Männer. Ich war mit dem Kopf völlig woanders. Er versuchte mich immer wieder umzustimmen, oder er kriegte Wutanfälle. Ich machte mir selber Vorwürfe: Ich bin keine gute Frau. Aber gleichzeitig wollte ich keine gute Frau sein. Manchmal, beim Zahnarzt oder so, las ich Artikel über Frigidität. Scheisse, dachte ich, ich bin eine frigide Frau. Ich fühlte mich mies.

Ich konnte ihm aber nicht einfach sagen, hör mal, ich habe eben keine Lust, sondern ich hatte plötzlich Bauchweh oder sonst eine Unpässlichkeit. Ich konnte ihm überhaupt schwer sagen, was mich störte. Zum Beispiel seine besoffenen Töfffahrten, seine idiotischenWettrennen mit den anderen Töffkollegen, seine Trinkerkumpane, die mich jedes Mal mit dem doofen Spruch: Grüezi Frau Lehrerin, empfingen. Wenn ich meine Meinung sagen wollte, wurde Franco laut, ich kriegte den Horror und schloss mich noch mehr ab.»

Nun leuchtet es aber nicht ein, dass unsere Eltern oder Grosseltern mit grösserer Lust zu Werke gegangen sein sollen. Es gibt kaum Belege für das von Schmidt und Co. prognostizierte Verschwinden der altbackenen Paarungslust. Ausser den Reports von Kinsey (1948, 1953) und Hite (1976) aus den USA existieren keine früheren Untersuchungen, die einen zuverlässigen Langzeitvergleich erlauben würden. Und diese legen zudem keine Änderung im Lustverhalten nahe.

Höchstens, dass unsere nächsten Vorfahren weniger über die Lust gesprochen haben. Und dass es ihnen mehr Mühe bereitet hätte, wegen Lustlosigkeit einen Sexdoktor zu konsultieren (damals ohnehin noch eine rare Spezies). Denn etwas hat sich in den letzten Jahrzehnten tatsächlich verändert. Die ästhetisch-moralische Kulisse, vor der sich das gesellschaftliche Leben abspielt, erfuhr eine sexuelle Grossaufrüstung. Das Intime wurde zum öffentlichen Spektakel.

Franco S. «Wir hatten uns entfernt. Aber nicht in der Tiefe. Dort war noch Liebe. Alles andere machten wir gerne zusammen, Kino, Reisen, Freunde. Und wir waren eingepackt in meine Familie. Ich musste Geduld haben. Meine Ausstrahlung musste für sie wieder stimmen. Ich regelte das Geschäftliche, versuchte mich zu bessern, und irgendwie kamen wir aus dem schwierigen Rank wieder heraus. Die Empfindungen bei Karola wurden wieder wach, und der Sex war wieder gleich gut wie vorher. Körperlich hatten wir uns immer gut verstanden.»

Karola S. «Ich weiss nicht genau, warum wir nach so langer Zeit wieder aus dem Loch herausfanden. Wir fanden irgendwie einen Kompromiss: Er geduldet sich ein wenig, und ich komme ihm entgegen, indem ich nicht sofort eine Ausrede suche. Ich konnte mich nur überwinden, weil ich in Erinnerung hatte, dass mir Sex ja auch Spass macht. Ich liess mich wieder ein, etwas machte Klick, es funktionierte, und nachher dachte ich, was bist du für ein Guetsli, dass du nicht schon vorher mitgemacht hast.

Und ich nahm mir vor, meine Harmoniesucht zu überwinden. Franco konnte bestens streiten, auch mit seinen Mitarbeitern: Er sagte seine Meinung, und dann war es wieder gut. So wollte ich es auch halten.»

Das Reden über die Triebe ist heute freier, die Fallhöhe zwischen grassierender Lustsimulation und karger individueller Praxis dafür umso grösser. Umstellt von Bildern voller erotischer Signale und taumelnd zwischen Zerknirschung und Ausbruchsgelüsten stellen sich dem Einzelnen unweigerlich einige Fragen. «Stimmt etwas nicht mit mir», nagt es, «bin ich verknorkst? Brauch ich gar professionelle Hilfe? Ist unsere Beziehung tot? Oder habe ich den falschen Partner?»

Was ist normal? Trotz pausenlosem Sextalk, Auskernung der Schamzonen und intimen Beichten vor TV-Kameras bleibt unser Bild aber merkwürdig blass, wenn wir uns vorzustellen versuchen, wie und wie oft es denn unsere Nachbarn eigentlich treiben. Eine Untersuchung von Astrid Riehl-Emde an 200 Paaren aus dem Kanton Zürich, verheiratet zwischen fünf und 30 Jahren, förderte dazu Folgendes zu Tage.

Im ersten Jahr ihrer Beziehung, so die Auskunft aller befragten Paare, bestand eine Koitusfrequenz von mehr als zweimal die Woche. Für das Jahr der Befragung nannten sie eine Frequenz von ein- bis viermal monatlich. Diese Werte wiederum waren relativ unabhängig von der Dauer der Partnerschaft. Ob ein Paar erst fünf oder bereits 25 Jahre zusammenlebte, spielte keine Rolle. Erst bei der Gruppe, die auf das 30. Hochzeitsjahr hinsteuerte, war eine geringe Abnahme des ehelichen Beischlafs auszumachen.

Umfragen sind grundsätzlich zu misstrauen, im Speziellen, wenn es um Sexualität geht. Die Leute versuchen in der Regel, sich vorteilhafter zu präsentieren, als sie sind. Diese Ergebnisse stehen jedoch im Einklang mit anderen Studien. Offenbar folgt die sexuelle Entwicklung von Zweierbeziehungen einer Art Gesetzmässigkeit. Nach einem hochfrequenten Anfang setzt ein kontinuierlicher Niedergang ein, der nach einigen Jahren stoppt und sich auf einem bestimmten Level stabilisiert. Nicht das Alter der Partner ist für das Verdämmern der Leidenschaft entscheidend, sondern das Alter der Verbindung.

Franco S. «Karola hatte zwei Affären. Die Erste mit einem Lehrerkollegen, als sie neben dem Jusstudium noch Schule gab. Das war in unserem fünften Jahr. Jemand hatte mir gesteckt, dass da etwas läuft, und ich holte sie mitten aus der Schulstunde heraus. Wir gingen in den Keller, fielen uns in die Arme, wein- ten, und sie ging zurück in die Klasse. Danach klemmte sie mit dem anderen ab. Ich weiss nicht, ob sie mit dem Typen Sex hatte. Meine Anfragen wurden bis heute von ihr immer sehr ausweichend beantwortet.

Die zweite Geschichte war ernster, es war nach etwa 13 Jahren, und wieder wurde sie mir zugetra-gen. Sie gab es zu und zog von einem Tag auf den anderen aus. Ich lief Amok, war das heulende Elend, fasste mich nach drei Monaten wieder, verpasste mir ein neues Outfit, schnitt die Haare kurz, kaufte ein Saxofon und stellte mich auf ein neues Leben ohne sie ein, als wir uns wieder zu treffen begannen. Mit dem anderen war es auseinander gegangen.»

Eine statistische Kurve erzählt nichts über das inviduelle Erleben. Nichts über die Männer, die sich von den Kollegen verabschieden, ich muss jetzt nach Hause, ihr wisst schon, das Obligato- rische schiessen, und dabei kurz die Augen rollen. Sie erzählt nichts über die Frau, die 40 Jahre lang verheiratet war, zwei Kinder gebar, mit der Regelmässigkeit einer Sonntagsmesse vom Gatten genommen wurde, nie etwas dabei empfand, nach dessen Tod ihre grosse Liebe kennen lern-te, einen 70-jährigen Rentner aus Bern, zwei- fach geschieden, beide Male von einer frigiden Frau, mit diesem im Alter von 65 zum ersten Male das Glücksgefühl des Orgasmus erlebte, und dann wieder und wieder, fünf lustige Jahre lang, bis sie an Krebs starb. Und die Kurve ver- rät nichts über die Schwankungen der Anziehung in langjährigen Ehen, wo lange Durststrecken sich mit Phasen intensiverer Erotik abwechseln. Wieso lässt die Lust auf den anderen überhaupt nach und schläft bei einigen gar auf immer und ewig ein?

Letztere Fragen sind natürlich naiv. Eher müsste man sich wundern, wie es immer wie- der Paare fertig bringen, für einander attraktiv zu bleiben. Fast alles spricht dagegen. Schon der Alltag. Unzählige Widrigkeiten hält er bereit, meistens Kleinigkeiten, aber effizient genug, um jegliche Romantik nachhaltig auszutreiben. Die Toilettengeräusche des anderen sind nicht faszinierend, nicht der Mundgeruch am Morgen, das Schnarchen, die Haare im Lavabo, die herumliegenden Unterhosen, das müde Gesicht, dieser gewisse Ton in der Stimme, die kleinen Entwertungen vor den Gästen, der Körper, den man in- und auswendig zu kennen glaubt und dessen Haut mit jedem Jahr etwas weniger leuchtet.

Karola S. «Man macht das erste Schrittchen, denkt sich nicht viel dabei, dann noch eines, und schon gerät alles ausser Kontrolle. Ich verliebte mich in einen anderen Mann. Sein Werben tat mir gut, wie eine Frischzellenkur, und es gelang mir nicht mehr, den Aufwind auf die Beziehung mit Franco umzulenken. Der war immer noch viel mit seinen Leuten zusammen, überhockte abends, und der andere hatte Zeit. ·

Ich wusste, dass Franco durchdrehen würde, ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber es war zu spät. Franco kam bald dahinter. Als ich auszog, sagte ich ihm, es sei nicht primär wegen des anderen, ich wolle aber mal alleine leben, ausprobieren, ob ich das kann, den Kollegenkreis pflegen und so weiter. Ich glaubte fast selber daran. Der andere verlor aber bald sein Interesse, als er merkte, dass ich frei war.»

Aber auch wer die Schwerkraft des Alltags zu unterlaufen versucht, wer rücksichtsvoll ist und grosszügig veranlagt, entgeht nicht dem Dilemma, dem grundsätzlichen Zwiespalt, der in jeder ehelichen Beziehung lauert. Sex verträgt sich schlecht mit Liebe.

Die Menschen fliehen die Einsamkeit. Allei-ne fühlen sie sich unfertig, unerlöst, fremd. Sie wollen zur Ruhe kommen und sehnen sich nach jemandem, der ihnen nahe und vertraut ist, der zu ihnen gehört. Der da ist, wenn man am Morgen aufwacht, versteht, wovon man spricht, sich freut, wenn man ihn anruft. Jemanden, auf den man sich verlassen kann, mit dem man Pläne schmieden, ein Nest bauen, Kinder kriegen und alt werden möchte. Jemanden, den man liebt und der einen ebenso liebt.

Der Sex ist der Brennstoff der Fusion. Er führt dem Ritual der Paarung die notwendige Betriebshitze zu. Er versetzt die Frischverliebten in jene seltsame Euphorie, die Aussenstehenden lächerlich bis unheimlich vorkommen kann. Aber auf den Sex ist kein Verlass. Nach 90 Tagen schon, haben Wissenschaftler gezählt, beginnt sein In-teresse zu schwinden. Das Objekt ist erkundet, seine Reaktionen sind bekannt. Denn der Sex ist ein unheilbarer Herumtreiber. Wankelmütig und jederzeit ablenkbar, scheut er Bindungen und Verpflichtungen. Sein Element ist die Spannung, er liebt das Neue und Dunkle, und seine Lust ist amoralisch, egoistisch und gierig. Er will, was er nicht hat, und er will es sofort.

Früher hat «ein Acker den anderen geheiratet» (Alexander Kluge), die Ehe war eine Wirtschaftsgemeinschaft, und Kinder wurden gezeugt, um Arbeitskräfte und Erben für Hof oder Handwerksbetrieb zu haben. Die bürgerliche Moderne wärmte die Ehe emotional auf. Sie sti- lisierte sie zum Liebesinstitut, gegründet auf Zusammengehörigkeitsgefühl und Leidenschaft. Eine Quadratur des Kreises. Liebe ist konserva-tiv, will Geborgenheit und Sicherheit; das Begehren dagegen die Aufregung, den Kick.

Wir wollen beides. Wie soll das gehen? Alle fünf Jahre, wenn die Lust aufgebraucht ist, den Partner wechseln? Das ist nicht allen gegeben. Die Liebe überdauert das Knistern. Und dann sind da noch die Kinder, an denen das Herz hängt. Offene Ehe? Wurde in den Siebzigerjahren ausprobiert. Hat wehgetan. Heimliche Affären? Haben die Tendenz, drei Seelen zu malträtieren. Abhärten und trotzdem tun? Verdirbt den Charakter und macht zynisch. Bei Beate Uhse einkaufen? Nützt nichts. Mit den Zähnen knirschen und das Alter abwarten, das die Triebe beruhigt? Schade um die Zeit. Und: Alter schützt vor Torheit nicht.

Ist uns noch zu helfen?

Franco S. «Nach einem weiteren Monat sagte sie, sie wolle wieder nach Hause. Ich räumte den Flip-perkasten und die Jukebox wieder weg, weil sie der Dame nicht passten. Ich wusste, ich musste mich neu orientieren. Nie mehr wollte ich so leiden. Ich durfte mich nicht mehr so abstützen auf sie, ich musste selbstständig werden. Rucksackbeziehungen funktionieren nie. Man darf kein Rucksack für den anderen sein.»

Karola S. «Ich kehrte zu Franco zurück. Ab da war es anders, besser. Wir wussten, dass wir zusammenbleiben wollten. Aber unter dem Motto: Das ist heute, morgen wissen wir nicht. Sexuell hatten wir einen grossen Schub. Wir waren wie frisch verliebt. Wir hatten das Gefühl, dass der andere etwas ganz Kostbares ist. Die Affäre war wie ein Schnitt gewesen, wie ein Neuanfang. Franco machte mir keine Vorwürfe. Nur den einen: Wie konntest du unseren Hund verlassen? Hätte er mir richtige Szenen gemacht, wäre ich nicht zurückgekehrt. Ich glaubte zum ersten Mal wieder seinen Versprechungen, dass er seine Sauf- fahrten künftig lassen würde. Manchmal braucht es offenbar Holzhammermethoden, um jemandem beizubringen, dass es so nicht mehr weitergeht.

Die wichtigste Erfahrung in dieser Affäre war für mich der Sex. Ich war offenbar normal, normal erlebnisfähig. Alles klappte bei mir ohne Krampf und Brimborium. Dies war eine grosse Erleichterung.»

Gedämpfter Optimismus ohne Gewähr kommt von Jürg Willi, Paartherapeut und ehemaliger Direktor der Psychiatrischen Poliklinik der Uni Zürich. Es gebe in der Tat, meint er, diese Sehnsucht nach beidem: nach der Sexlust der Eroberung und nach der Erotik des Vertrauens. Sie seien nie in Deckung zu bringen. Auch wenn sich die Körper treu bleiben. Der Fantasie gelingt es nicht. Erotik habe aber auch in Langzeitbeziehungen eine Chance, sagt Willi. Voraussetzungen seien Freiheit und Abgrenzung, die Part- ner dürften nicht völlig ineinander aufgehen. Es brauche gar eine gewisse Aggressivität: streiten, sich hochnehmen, Konfrontationen.

Grösstes Gift für den Eros sei nämlich die Harmonie. Zu viel Nähe und Friedfertigkeit schaffe einen spannungslosen Zustand und schläfere den Sex unweigerlich ein. Der breche dann häufig über eine Aussenbeziehung wieder herein und spalte das Paar. Und wie sich die beiden nun gegenüberstünden, erwache die Sexlust plötzlich neu, da der eine um den anderen kämpfen müsse. Dies zeige, wie wichtig die Spannung, die Auseinandersetzung sei. Dies sei aber, will Willi festgehalten haben, keine Empfehlung zum Seitensprung. Im glücklichen Fall führe er paradoxerweise zu einer Belebung und Erotisierung der Dauerbeziehung. Die Gefahr eines Auseinanderbrechens sei aber gross. Fremdgehen sei der häufigste Trennungsgrund.

Franco S. «Selber hatte ich nur eine andere Beziehung, für die ich Karola beinahe verlassen hätte. Ich hatte bereits eine Wohnung organisiert, trat mit dem gepackten Koffer ins Treppenhaus, blieb stehen, fing an zu heulen, kehrte um, rief Karola an und sagte ihr, ich sei ein himmeltrauriger Lappi. Im allerletzten Moment war mir klar geworden: Was soll ich unsere lange Beziehung hinschmeissen für eine geile Sexaffäre, die nach sechs Monaten wieder fertig ist?

Frauen gefallen mir. Ich bin kein Unschuldslamm. Aber Karola war immer unheimlich tolerant. Von gewissen Sachen wollte sie nichts wissen. Sie sagte, du musst selber entscheiden, was du tust. Wenn du nicht mehr willst, musst du es sagen. Ich werde todtraurig sein, aber ich werde es überleben. Sie hat ihre Eifersucht unter Kontrolle. Im Gegensatz zu mir.»

Karola S.«Immer wieder kam ich hinter Affären von Franco. Zum Beispiel schickte ihm eine Frau Champagnergläser zum Geburtstag. Ich schaute mir die Gläser genauer an. Sie waren extrem hässlich. Da wusste ich, die ist keine Gefahr, und blieb völlig cool.

Nur einmal war ich verzweifelt. Ich realisierte, dass er wirklich daran dachte zu gehen. Als ich ihn zur Rede stellte, sagte er, die andere finde ihn eben sexuell begehrenswert. Ich fühlte mich schuldig: Ich habe ihn verletzt, weil ich keine Lust auf ihn habe. Er ist bei mir sexuell nicht zufrieden. Er stritt es sofort ab.»

Im Übrigen, findet der 66-jährige Professor, würde die Bedeutung des Sex übertrieben. Bei den meisten Paaren, die sich als glücklich bezeichnen, spiele dieser keine grosse Rolle.

Die oben erwähnte Studie von Astrid Riehl-Emde scheint ihm Recht zu geben. Die befragten Zürcher Paare mussten auch Auskunft darüber geben, was gegen eine Trennung spreche, res-pektive was sie zusammenhalte. Als wichtigsten Faktor nannten sie die «Liebe». An zweiter Stelle rangierte der «Alltag mit den Kindern». Auf Platz Nummer drei kam «Solidarität und Unterstützung». Es folgten verschiedene andere Punkte wie «Identifikation mit der Partnerschaft», «Austausch im Gespräch», «Aufteilung der gemeinsamen und eigenen Lebensbereiche». Alle wurden sie als signifikant wichtiger eingestuft als «Sex», der abgeschlagen im hinteren Bereich landete, etwa gleich bedeutsam wie die «Beziehung zur Herkunftsfamilie».

Schon vor 500 Jahren hat Martin Luther in einer Tischrede ausführlich (männliche) Klage über «Unlust und Beschwerde im Ehestande» geführt: «Wir fürchten uns allzumal fur der Weiber wünderlichem Sinn, der Kinder Heulen und Schreien, Sorge fur grosser Unkost und böser Nachbarn etc. Darum wollen wir frey und ungebunden seyn, dass wir freie Herren bleiben und thun mögen, wie es uns gelüstet, mit Huren, müssig gehen etc. Daher auch keiner von den Vätern etwas merklichs und sonderlich Gutes vom Ehestand geschrieben hat.»

Er ist trotzdem bei seiner Frau geblieben.

Vielleicht ist es Weisheit, vielleicht auch nur mutloser Pragmatismus, wenn man das scheinbar Unvermeidliche akzeptiert.

Franco S. «Seit zehn Jahren arbeite ich oft auswärts, manchmal bis zu zwei Monaten. Ich vermisse Karola, ihren Geruch, ich vermisse es, neben ihr zu liegen. Wir sind jetzt 29 Jahre zusammen. Die letzten zehn waren die besten. Ich freue mich jedes Mal, sie wieder zu sehen. Manchmal komme ich zur Tür herein: Karola, schnell, wir machen es auf dem Küchentisch! Dann lachen wir. Wir haben es noch nie auf dem Küchentisch gemacht. Ich weiss, dass sie es nicht will.

Die Initiative für den Sex geht noch immer eher von mir aus. Aber wenn sie auf Touren ist, spielt dies keine Rolle mehr. Sie ist freier geworden. Und seit ich im Ausland arbeite, hat sich ihre Lust verdoppelt. Die Leidenschaft des Neuen ist zwar nicht mehr da. Aber wir kennen uns, wir vertrauen uns, die Knörze sind weg, und das gefällt mir. Und vor zwei Jahren haben wir übrigens noch geheiratet. Wir sind jetzt 50, verdammt, wie ging das schnell. Sie hat immer noch schöne Brüste und eine schönes Füdli. Ich sage es ihr auch. Wir werden älter, sie wird schrumpliger, und ich auch, wir machen das zusammen. Ich stelle sie mir genau vor, wie sie mit 60 sein wird: glatte, graue Haare, Pagenschnitt. Ein Glück, dass sie nicht so viele Runzeln hat. Das Alter hat eine eigene Schönheit.»

Karola S. «Etwas ist seit 29 Jahren gleich geblieben. Um Sex zu haben, muss für mich noch immer das Beziehungsklima stimmen. Ansonsten ist der Sex anders geworden. Schöner? Anders schön, weil ich anders bin und wir uns besser kennen. Schöner vielleicht, weil ich gelöster bin.»

Schöner Sex mit einem geliebten Partner bis ins Alter? Es gibt ihn. So wahrscheinlich wie ein Lottogewinn. Ein ungelüftetes Geheimnis. Bei uns aber, sagen alle, wird es klappen. Wir sind unbelehrbar. Glücklicherweise.

Nach oben scrollen