Die Weltwoche

12.12.2019

Eine Frage der Moral

Therapie für Terroristen

Von Eugen Sorg

Wenn die Meinungseliten eine totalitäre, todessüchtige Ideologie blauäugig zur harmlosen Krankheit verkitschen, dann befindet sich eine Gesellschaft in Gefahr.

Als George Powell und Layton Davies, zwei Hobby-Schatzsucher, ein Gelände in der englischen Grafschaft Herefordshire durchstreiften, schlugen plötzlich ihre Metalldetektoren heftig an. Sie waren auf einen spektakulären Fund gestossen: dreihundert Silbermünzen, ein drachenköpfiger Armreif, ein Goldring, ein Kristallgehänge, ein Silberbarren, alles über tausend Jahre alt, eine archäologische Sensation mit geschätztem Wert von zwölf Millionen Pfund. Nun schreibt der Treasure Act, ein Gesetz von 1996, vor, dass solche Funde den Behörden gemeldet werden müssen, um Museen den Erwerb zu ermöglichen, wobei Finder und Landbesitzer je die Hälfte des bezahlten Betrags zusteht. Powell und Kumpan Davies unterschlugen den Schatz und versuchten, die Stücke direkt an Antiquitätenhändler zu verhökern. Sie waren gierig geworden.

Ihre Mogelei flog auf, und sie mussten sich vor einem Gericht verantworten. Experten erklärten, der sei Schatz von «nationaler Bedeutung», ein «wichtiger Teil unseres nationalen Erbes». Vergraben von einem Wikinger, der mit seinen Männern von angelsächsischen Truppen Ende des 19. Jahrhunderts gegen Osten getrieben wurde, könnten die Artefakte ein neues Licht werfen auf jene Zeit, als sich «England zur Nation mit einer eigenen Identität bildete». Die Buddelei der beiden Schatzsucher habe die historische Stätte «unumkehrbar beschädigt», eine präzise Erforschung der Ereignisse wahrscheinlich nachhaltig verunmöglicht. Zudem fehlten die meisten der dreihundert Münzen. «Der Schatz gehört der Nation», befand der Richter und verdonnerte Powell zu zehn und Davies zu achteinhalb Jahren Gefängnis. Ein drakonisches Urteil.

Eine ungleich mildere Behandlung erfuhr Anjem Choudary, obwohl dieser seit über zwanzig Jahren mit all seinen Kräften daran arbeitet, das «nationale Erbe», die «Identität» und den Besitz Grossbritanniens zu schädigen. Choudary, Sohn pakistanischer Einwanderer, ist ein radikalislamischer Prediger und Aktivist. Er war führende Kraft der salafistischen Gruppe al-Muhajiroun, die 2005 wegen Verstössen gegen das Terrorgesetz verboten wurde. Choudary reagierte mit der Gründung von Nachfolge- und Tarnorganisationen, Hilfswerken, Schulen, die Namen trugen wie «Aufruf zur Unterwerfung», «Muslime gegen Kreuzzüge», Sharia Project, «Aktionskomitee gegen britischen Terrorismus». Flog eine dieser Gruppen auf, entstanden sofort zwei neue. 181 Deckorganisationen wurden bis heute gezählt.

Deren Ziel ist die Unterwanderung und Umwandlung Grossbritanniens in ein Kalifat. Wo Muslime wie in gewissen Stadtteilen die Mehrheit bilden, sollen sie bereits kleine Emirate bilden, autonome Enklaven mit islamischer Rechtsprechung, unabhängig von der ungläubigen Gesellschaft. Choudary rief immer wieder zur Tötung von Prophetenkritikern auf, «schlachte diejenigen, die den Islam beleidigen», zur Tötung von britischen Soldaten, die in Afghanistan kämpften, «Hölle für Helden», zur Tötung des Papstes. Er feierte die Selbstmordattentäter von 9/11 als «die wunderbaren 19», und als Bin Laden von den Amerikanern aufgestöbert und erschossen wurde, versuchte er mit seinen Anhängern die US-Botschaft zu stürmen und drohte der britischen Regierung mit Racheanschlägen wie im Juli 2005 in London.

Der schlaue Korandoktrinär knüpfte ein globales Netzwerk und rekrutierte schon Ende der neunziger Jahre junge englische Muslime für geheime Camps, wo sie eine Waffenausbildung erhielten, um in Bin Ladens al-Qaida in Tschetschenien, Afghanistan, im Kosovo, in Somalia, in Kaschmir zu kämpfen. Wenige Jahre darauf wurde aufgedeckt, dass an einer islamischen Schule in East Sussex, wo angeblich nur friedlich der Koran studiert und Fussball gespielt wurde, tatsächlich Terroristen angeworben und an AK-47 und Raketenwerfern geschult wurden. Choudary war der Organisator.

Mindestens ein Dutzend Selbstmordattentäter und Planer von Anschlägen, die von Geheimdiensten verhindert wurden, waren Gefährten des Hasspredigers. Auch der Terrorist Usman Khan, der vor kurzem auf der London Bridge zwei Menschen erdolcht und drei schwer verletzt hat, war sein Schüler und Freund. Ausser ein paar kurzen Verhaftungen und Bussen wegen unbewilligter Demonstrationen blieb Anwalt Choudary, der damit prahlte, eine halbe Million Pfund Sozialhilfe vom englischen Kuffar-Staat bezogen zu haben, unbehelligt. Erst als er für das Blutkalifat des Islamischen Staates zu rekrutieren begann, wurde er 2016 zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis wegen Terrorbeihilfe verurteilt, kam aber zwei Jahre später auf Bewährung wieder frei.

Messermuslim Usman Khan war 2012 eingesperrt worden, weil er die Börse, Bürgermeister Boris Johnson und Synagogen in die Luft sprengen wollte. Im Gefängnis bewarb er sich um die Teilnahme an einem Deradikalisierungs-Programm und galt als geläuterter Vorzeigehäftling. Daher wurde ihm erlaubt, ohne polizeiliche Begleitung an einer Konferenz der Uni Cambridge teilzunehmen, die ein Rehabilitierungsprojekt für Verbrecher vorstellte. Aus Freude über den angeblichen Heilungserfolg sammelten seine Betreuer Geld, um ihm einen Computer schenken zu können. Er verdankte es auf seine Weise: Die Opfer Khans waren junge akademische Mitarbeiter dieses Projekts.

Wenn ungetreue Freizeit-Schatzsucher doppelt so hart bestraft werden wie ein notorischer, global agierender Terrorapologet, dann ist der Justiz der moralische Kompass abhandengekommen. Wenn die Meinungseliten eine totalitäre, todessüchtige Ideologie wie den islamischen Dschihadismus blauäugig zur Krankheit verkitschen, die man therapieren könne wie eine Grippe oder ein zu geringes Selbstwertgefühl, dann befindet sich eine Gesellschaft in Gefahr. Sie vergibt sich der notwendigen Mittel, sich gegen eine wirkliche Gefahr zu wehren.

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