Die Weltwoche

14.11.2019

Eine Frage der Moral

«Unfassbar dumm»

Von Eugen Sorg _ «Nicht Ideen töten, sondern Menschen», schreibt der Historiker Jörg Baberowski. Seit Jahren wird der Diktaturforscher von Linksextremen gestalkt. Was zeigt, wie wichtig seine Arbeit ist.

Vor vierzehn Jahren hielt der Publizist und Historiker Joachim Fest an der Universität Zürich einen Vortrag mit dem Titel «Die verlorene Kunst». Darin kritisierte Fest, der kurz darauf verstarb, die Geschichtswissenschaften, insbesondere deren «Verbannung des Menschen aus dem Geschichtsverlauf.» Diese Verarmung sei eine Folge der Dominanz von sozial- und strukturgeschichtlichen Denkmodellen, die den Motiven, Willensentscheiden, Leidenschaften historischer Individuen keine Bedeutung beimässen. Damit aber werde, so Fest, «die Unvorhersehbarkeit der Verläufe nicht nur zur blossen Rechenaufgabe verkleinert, sondern auch alle interpretatorische Neugier ausser Kraft gesetzt».

Wenige Jahre später veröffentlichte der Berliner Historiker Jörg Baberowski das Buch «Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt». Die grandiose und aufwühlende Studie liest sich, als ob Baberowski die Forderungen Fests hätte einlösen wollen.

Eines seiner früheren Bücher hatte sich schon einmal demselben Thema gewidmet. Damals orientierte er sich noch an der Denkschule des Soziologen Zygmunt Bauman, der die Monstrositäten der Stalin-Diktatur als unvermeidliche Begleiterscheinung des Prozesses der Moderne gekennzeichnet hatte. Nun erschien Baberwoski diese Deutung als «Unfug». Inzwischen war die Sowjetunion zusammengebrochen, und er hatte sich in die erstmals geöffneten Archive vertieft. Nach mehrjährigem Studium der Akten aus dem schwarzen Herzen der Macht – Korrespondenzen, Folterprotokolle, Statistiken, Befehle, Sitzungsberichte, Hinrichtungslisten – musste Baberowski seine bisherige Auffassung revidieren. Weder die unsichtbare Hand einer hegelianischen Dialektik noch die Schwerkraft der gesellschaftlichen Strukturen, noch der gebrochene Engel der Geschichte seien verantwortlich für die Millionen von verschleppten, verhungerten, erschlagenen Bauern, Arbeitern und Bürgern. Der absolute Terror, der zusehend nur noch sich selbst genügte und vom kleinen Dorflehrer über höchste Parteifunktionäre bis zu ganzen Volksgruppen – «Volksfeinde», «Ungeziefer», «Abfall», «Kakerlaken», «Wanzen» – jeden treffen konnte, die apokalyptischen Gewaltorgien des Stalinismus wurden von Stalin initiiert, kontrolliert und mit Unterschrift abgesegnet. «Ohne Stalins kriminelle Energie, seine Bösartigkeit», schreibt Baberowski und holt damit den Menschen als Akteur der Geschichte zurück auf die Bühne, «wären die Mordexzesse kaum möglich gewesen.»

Stalins Aufstieg zum kommunistischen Leviathan war wie alle historischen Entwicklungen nicht voraussehbar, aber er hatte Voraussetzungen. Der zaristische Staat hatte sich im Laufe des Ersten Weltkrieges aufgelöst, und das Reich verwandelte sich in einen riesigen chaotischen «Gewaltraum», beherrscht von Räuberbanden, Warlords, hungernden Massen und Lynchmobs. Im Kampf aller gegen alle um die Macht setzte sich schliesslich die Kleinpartei der Bolschewiki um Lenin und Trotzki durch. Nicht, weil sie das «attraktivere politische Programm» zu bieten hatten, sondern weil sie «in ihrer Skrupellosigkeit und Gewalttätigkeit, ihrer Bereitschaft, der Vernichtungsrhetorik auch Taten folgen zu lassen», allen ihren «Widersachern überlegen» waren.

Die Prägung sämtlicher sozialer Beziehungen mit dem Signum der Gewalt bot wiederum die Möglichkeit für einen, der noch diabolischer und ruchloser als die übrigen Genossen war, für einen, der Befehle zum Massenmord unterzeichnete, «ohne dass die Hand zitterte», für einen, der tötete, «weil es ihm gefiel». Für einen wie Stalin.

Auch die kommunistische Ideologie war laut Baberowski nicht das zentrale Motiv hinter dem stalinistischen Albtraum. Wenn man im Inneren des Machtzirkels beriet, wie mit vermeintlichen Feinden verfahren werden sollte, interessierten einzig der Erhalt der Macht und die Techniken der Auslöschung. Die Vision einer schönen klassenlosen Welt fungierte lediglich als propagandistische Lüge gegen aussen und als Rechtfertigung von ungeheuren Verbrechen. «Nicht Ideen töten, sondern Menschen», folgert Baberowski, einen anthropologischen Realismus widerspiegelnd, der weiss, dass die Lust an der Gewalt untilgbar zur Conditio humana gehört und jederzeit Moral und Zivilisation hinwegspülen kann.

«Das ist kein Mensch»

Baberowski, der an der Humboldt-Universität in Berlin lehrt, wird seit Jahren von einer kleinen trotzkistischen Sekte und einigen weiteren linksextremen Studenten politisch gestalkt und bepöbelt. Man stört seine Vorlesungen, auf Flugblättern wird er als «rechtsradikal» und «rassistisch» beschimpft, die Mensa wird mit aus dem Kontext gerissenen Zitaten des Professors tapeziert, er wird in der Öffentlichkeit gefilmt, auf den Strassen wird sein Konterfei mit Hakenkreuz aufgehängt. Der orchestrierte Rufmord blieb nicht ohne breitere Wirkung. Im Sommer wies der Akademische Senat der Humboldt-Uni Baberowskis Antrag auf die Einrichtung eines «Zentrums für vergleichende Diktaturforschung» zurück. Der Antrag sei in zu «schweres Fahrwasser geraten», begründete die Uni ihre Absage. Die studentischen Senatsvertreter, vier linke Aktivisten, hatten sich lautstark gegen das Zentrum gestellt.

Wessen Geistes Kind diese sind, verriet eine der Studentinnen, als sie folgendes leicht abgewandeltes Ulrike-Meinhof-Zitat auf Twitter als «sehr gut» lobte: «Wir wissen natürlich, die Springer-Journalisten sind Schweine, wir sagen, der Typ an der Tastatur ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen, und natürlich kann auch geschossen werden.»

Als «unfassbar dumm» bezeichnete daraufhin Baberowski die Studentin auf Facebook – nicht gerade professoral, aber zutreffend. Ein Zentrum für Diktaturforschung wäre nach wie vor eine sinnvolle Idee.

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