Basler Zeitung

19.09.2012

«Joa soweit erst mal …»

Wenn junge Leute zu viel Butler lesen

Von Eugen Sorg

Die Verleihung des angesehenen Theodor-Ador­no-Preises der Stadt Frankfurt am 11. September an die amerikanische Rhetorikprofessorin und Philosophin Judith Butler löste zum Teil heftige Reaktionen aus. Es waren Äusserungen aufgetaucht, in denen die Israel-Hasserin Butler die islamistischen Kampforganisationen Hamas und Hizbollah als Teil der «globalen Linken» bezeichnete, also als «soziale, progressive Bewegungen» mit emanzipatorischem Charakter – also ausgerechnet die genozidale Hamas, deren Charta die Ausrottung der Juden als religiöse Pflicht fordert, und ausgerechnet die totalitäre Hizbollah, ein Terror­geschöpf des iranischen Gottesstaates.

Kritiker warfen der «Denkerin von Weltrang» (Kuratorium des Adorno-Preises) politische Dummheit vor, andere sprachen von Selbsthass (Judith Butler ist Jüdin), während die Geehrte selbst sich herauszuwursteln versuchte und dabei auch von Böswilligkeit und Missverständnissen orakelte.

Allerdings wurde Judith Butler vom deutschen Kuratorium nicht für ihre Verdienste in der Bekämpfung Israels geadelt, sondern für ihr philosophisches Werk, für ihre Rolle als «Vordenkerin eines neuen Verständnisses von Kategorien wie Geschlecht und Subjekt», für ihr Beharren auf dem «Paradigma der kritischen Autonomie».

Butler gilt als Meisterdenkerin der Gender Studies und deren Ausformung in der Queer-Theorie, eines begrifflichen Schirms für alle «Gender­nauten» und sexuell Gesetzlosen, der Lesben, Bisexuellen, Schwulen und sonstigen «transgendered people», «Hinübergeschlechtlichen».

Wer die Mühe auf sich nimmt und sich durch die obskuren bis opaken Satzgebilde der Amerikanerin quält, der ahnt mit der Zeit dunkel, wohin die intellektuelle Reise gehen soll. Butler sieht die Welt unter der Herrschaft des «Phallogozentrismus» und der «Zwangsheterosexualität» schmachten. Die bekennende Homosexuelle will die Unterscheidung in Mädchen und Knaben auflösen. Sie betrachtet die Geschlechtsidentitäten als kulturell aufgezwungene Fantasie, als ein gewalthaftes Konstrukt aus Bildern und Diskursen und erklärt somit die evolutionsgeschichtlich in Hormonen, Gehirn und Körper eingeschriebene Geschlechtlichkeit zum Stereotyp, das es zu unterlaufen und zu entgrenzen gilt.

Wohin das führen kann, wenn man zu viel Butler liest und das Gelesene zu ernst nimmt, zeigt die mittlerweile gelöschte Anzeige von vier bedauernswerten jungen Menschen, die auf der Website wg-gesucht.de nach einem neuen Mitbewohner Ausschau halten:

«Hallo WG-Suchende,

für unsere 5köpfige WG suchen wir ab 10.09. oder 01.10. oder 01.11. eine_n langfristige_n Mit­bewohner_in, die_der sich nicht cis-männlich ­positioniert; eine längere Zwischenmiete nach Vereinbarung wäre auch möglich. Das Zimmer ist ca. 12 qm gross. Wenn es dir sehr wichtig ist, in einem grösseren Zimmer zu wohnen, wäre noch das 14 qm Zimmer verhandelbar. Das freie Zimmer kostet mit allem drum und dran 235.– €. Wenn du in einer schwierigen finanziellen Situation lebst, würde ein Teil von uns dich bei der Miete entlasten können. Wir bewohnen eine helle, leider nicht rollstuhl-barrierefreie, über 2 Ebenen verlaufende 5-Zimmer-Wohnung mit einer Wohnküche mit KochHalbinsel, gemütlicher Sofasitz­ecke, 2 Badezimmern, Hof mit Basketballplatz und einem kleine Kellerraum.»

«Wer wir sind: Wir verorten uns anarchistisch/linksradikal/(pro) queer-feministisch/anti-patriar­chal und leben vegan.

Auf struktureller Ebene sind wir alle unterschiedlich positioniert, d. h. wir profitieren bzw. sind negativ von verschiedenen MachtStrukturen betroffen: hier wohnen sowohl weiblich als auch männlich erstsozialisierte Personen, einige haben einen Mittelklassebackground und andre haben Klassenwechsel erlebt. Eine Person ist negativ von Rassismus betroffen und die anderen drei sind weiss positioniert. Wir setzen uns alltäg­lich auseinander u. a. mit Themen wie Privilegien, Support, Awareness, sensibles Miteinander, Gender- (queer) Feminismen, weissSein, Rassismus, Adultismus, Gewaltfreie Kommunikation etc.

Jede_r von uns ist jeweils verschieden weit in den Themen drin und steckt in unterschiedlichen Prozessen. Wir machen mind. 1 pro Woche einen WG-Abend/Plenum, bei dem wir uns Zeit nehmen, emotionale, soziale, organisatorische und andere präsente Themen zu besprechen. Wir versuchen mitfühlend und bedürfnisorientiert miteinander umzugehen. Wir sitzen öfter in der WohnKüche rum, redend, kochend, essend und gehen öfter zu politisch-kritischen Veranstaltungen, denken über Aktionen und Interventionsmöglichkeiten nach.»

«Wir haben eine Gemeinschaftskasse für Essen usw. (0–10 € pro Woche, je nach deiner finanz. Situation) und gehen öfters containern.

Wen suchen wir? Wir suchen jemensch, die_der sich nicht cis-männlich positioniert, sich ähnlich verortet bzw sich für ähnliche Themen interessiert und ihre_seine Gedanken, Prozesse etc gerne mit anderen teilt, auch vegan lebt oder vegan leben möchte, keine fertige WG erwartet und die_der eher oft als selten in der WG wäre und dort öfter zusammen sein möchte. Wir suchen jemensch, die_der Positionen-aware ist und bei der_dem marginalisierte/unpriviligierte Perspektiven ­vorrangigen Raum bekommen. Perspektivisch möchten einige oder vlt auch alle von uns ein gemeinsames HausProjekt gründen. Wir sind schon auf der Suche, aber bisher erfolglos.»

«Joa soweit erstmal. Wenn es für dich soweit ­passend klingt, melde dich bei uns und wir ­schicken dir bei Bedarf eine noch etwas detailliertere Beschreibung von uns. Da ganz viele Menschen e-Mails an uns schreiben mit Null Bezug zu unserem Gesuch, die es wahrscheinlich gar nicht durchlesen, möchten wir dich bitten, in deiner Anfrage irgendwo das Wort ‹kollektiv› unterzubringen.

Bis dahann, die 4»

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